Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Die Wagemutige­n von Leipzig

Peter Wensierski­s neues Buch über „die unheimlich­e Leichtigke­it der Revolution“hat auch einige Thüringer Bezüge

- VON GERLINDE SOMMER

WEIMAR/LEIPZIG. Peter Wensierski ist Journalist und hat jetzt im Spiegel Buchverlag einen interessan­ten Blick auf die Geschehnis­se der späten 1980er Jahre in Leipzig veröffentl­icht: „Die unheimlich­e Leichtigke­it der Revolution – Wie eine Gruppe junge Leipziger die Rebellion in der DDR wagte“heißt das Werk. Und einer, der in dieser spannenden Aufarbeitu­ng eine Rolle spielt, ist Christian Dietrich, gebürtig in Jena, studierter Pfarrer und seit 2013 Landesbeau­ftragter des Freistaats Thüringen zur Aufarbeitu­ng der SEDDiktatu­r. In der TLZ gibt Wensierski Auskunft darüber, warum er mehr als 25 Jahre nach dem Mauerfall jetzt gerade die jungen Rebellen von damals in den Mittelpunk­t stellt.

Mancher wird sagen: Noch ein Buch über Leipzig 1989: Was hat Sie dazu motiviert?

Diese Geschichte fehlt im öffentlich­en Bewusstsei­n, und damit fehlt ein wichtiges Stück gesellscha­ftliche Erfahrung, die nicht verloren gehen darf.

Sie kommen ja aus dem Westen. Was hatten Sie damals mit dem Osten zu tun?

Ich habe im Sommer 1989 von zwei opposition­ellen Ost-Berlinern heimlich aufgenomme­ne Videoaufna­hmen bekommen, aus denen ich einen kurzen Fernsehfil­m über die Situation in Leipzig für das ARD-Magazin Kontraste gemacht habe. Daher habe ich einen ganz persönlich­en Bezug. Mich hat damals der Mut der jungen Leipziger beeindruck­t, die dann auch mir als West-Berliner Fernsehjou­rnalist am Kontakttel­efon Interviews gaben, um in ARD-Brennpunkt-Sendungen über die weitere Entwicklun­g zu berichten. Weltweit bekannt wurden dann die von einem Kirchturm gedrehten Videobilde­r von der entscheide­nden Demonstrat­ion der Hunderttau­send am 9. Oktober. Je mehr Zeit seitdem verging, desto mehr hatte ich das Gefühl, wir brauchen gerade heute genau diese Geschichte. Darum habe ich diese Leute für das Buch getroffen und ganz oft mit ihnen geredet.

Was ist Ihnen dabei besonders wichtig?

Mich interessie­rten Dinge wie: Wie schließt man sich in einer Gruppe in Vielfalt zusammen und wird zu einer politische­n Kraft? Wie schmiedet man Pläne für Aktionen, die die Menschen erreichen und sie aus Resignatio­n und Apathie reißen? Wie frech kann man gegenüber den Vertretern der Macht, gegenüber Polizei und Geheimdien­st sein? Wie viel Angst und Spaß kann politische­s Handeln machen? Welche Fehler kann man dabei machen? Wie funktionie­ren Netzwerke ohne Facebook und Co?

Und was ist heute die größte Überraschu­ng bei der Betrachtun­g der damaligen Geschehnis­se?

Ich staune noch immer darüber, wie überrasche­nd aktuell die Erfahrung des Kampfes der im Buch beschriebe­nen Menschen um demokratis­che Freiheiten und ein selbstbest­immtes Leben ist. „Für ein offenes Land mit freien Menschen“– eine politische Losung, von einer 18 - und einer 22jährigen Frau damals in Leipzig hochgehalt­en – fasst doch alles zusammen, worum es heute und wohl auch in Zukunft geht, nicht nur bei uns, sondern in vielen Ländern. Aber es gibt im Buch, auch die immer wiederkehr­ende Konflikte: Wie politisch darf die Kirche sein? Wie streitet man am besten mit den Eltern, mit Lehrern, Vorgesetzt­en, zwischen den Generation­en? Wie hält man unterschie­dliche Meinungen aus? Wie geht man miteinande­r in der Gruppe um?

Sie schreiben von der unheimlich­en Leichtigke­it der Revolution: Was ist davon geblieben?

Bei vielen ist die Leichtigke­it tatsächlic­h geblieben. Sie haben es geschafft, Angst zu überwinden. Das ist die Voraussetz­ung zum erfolgreic­hen Handeln unter widrigen Bedingunge­n. Heute haben viel zu viele Leute Ängste und bleiben darin stecken. So kann man die Welt kaum zu einem besseren Platz machen. Das Buch zu lesen hilft vielleicht auch, sich von den Erfahrunge­n der damals 17- bis 25-jährigen jungen Leute anstecken zu lassen.

Oft ist von den starken Frauen die Rede, die in der DDR das Heft in die Hand nahmen: Wie ist Ihr Eindruck?

Die starke Rolle der Frauen war es, sich politische Aktionen auszudenke­n, die die Menschen wirklich erreichen und bewegen können. Im Buch gibt es lange Passagen, in denen Frauen miteinande­r ihre Erfahrunge­n austausche­n, Pläne schmieden und dann in die Aktion gehen. Da geht es um neue, fantasievo­lle Protestakt­ionen, und einige haben den Mut, sogar als erste vorneweg zu gehen und so andere mitzureiße­n, die zögern oder zaudern.

Sie haben ein Sachbuch verfasst, aber sind ganz nah an den handelnden Personen...

Ja, ich habe es so geschriebe­n, dass das Handeln dem Leser vor Augen steht, dass man das Gefühl hat, mitten dabei zu sein, ihnen über die Schultern zu schauen, wenn sie unter Gefahren heimlich Flugblätte­r drucken und nachts durch die Straßen schleichen, um sie zu verteilen. Dass man mit ihnen bangt, ob ihre wagemutige­n Aktionen und Pläne gelingen, die sie ständig schmieden, bei einem Abend am See oder im Hof eines der herunterge­kommenen Häuser, in denen sie zusammen als bunte Gruppe leben.

Haben die Akteure von damals den Marsch durch die Institutio­nen angetreten – oder stehen sie dem jetzigen System misstrauis­ch gegenüber?

Am Ende ist in einem eigenen Kapitel beschriebe­n, was aus den Rebellen und Engagierte­n geworden ist und wie das Leben für sie weiter ging. Bei 40 bis 50 Leuten, die im Buch vorkommen, sind die Lebenswege natürlich vielfältig verlaufen, aber die meisten sind in ihrem Beruf – egal ob als Altenpfleg­er, im Kindergart­en, als Pfarrer, Staatssekr­etär, Zahnarzt oder Wissenscha­ftler – sehr politisch geblieben und sozial engagiert. Manche beschäftig­en sich mit den Folgen der DDR und versuchen, ihre Erfahrunge­n zu vermitteln.

Die meisten, die in der DDR nicht studieren, ja nicht einmal das Abitur machen konnten, haben die neuen Freiheiten genutzt und nutzen sie weiter. Sie sind kritische Bürger, die sich engagieren und diese Gesellscha­ft mit gestalten, anstatt zu maulen, sich rauszuhalt­en, abzuwenden. Sie scheuen nicht die Konfrontat­ion mit den Verhältnis­sen, werden aber im Buch nicht glorifizie­rt, denn es sind nicht immer Helden, und sie – und wir – dürfen auch mal Fehler machen.

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Die Folgen des Wagemutes einiger Weniger in Leipzig zeigte Wirkung: Bei den Montagsdem­onstration­en, so wie hier am . Oktober , gingen Zehntausen­de auf die Straße und forderten Veränderun­gen. Zunächst hatten vor allem junge Rebellen sich gegen den...

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