Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Irrsinn von Liebe und Krieg
Verheißungsvoll: Kay Kuntze inszeniert am Geraer Theater die äußerst selten gespielte Oper „Masepa“von Peter Tschaikowsky
GERA. Ein verratener Verräter, dem der Zar trotzdem Glauben schenkt, ein junges Mädchen, das sich in seinen um 50 Jahre älteren Taufpaten verliebt, und ein starrsinniger Gutsherr, der zu Unrecht gefoltert und hingerichtet wird: An Ungeheuerlichkeiten herrscht auf der Bühne wahrhaftig kein Mangel in Peter Tschaikowskys „Masepa“. Dass die Oper hierzulande äußerst selten gespielt wird, mag an ihrem relativ sperrigen historischen Hintergrund liegen. In der Ukraine wird der Kosaken-Anführer Masepa als Volksheld verehrt, bei uns kennt man ihn kaum. Doch davon lässt Kay Kuntze, Intendant des Theaters Altenburg-Gera, sich nicht beirren. Die „Ausgrabung“hat heute Abend in Gera Premiere.
Kuntze weiß, dass sein Publikum für solche kalkulierten Experimente offen ist, und schließlich genießt sein Haus auch dafür einen Ruf. Hans Sommers „Rübezahl“zum Beispiel, nach der Bühnenproduktion auf CD eingespielt, ist jetzt sogar auf der Longlist zum Preis der Deutschen Schallplattenkritik nominiert worden. Und „Masepa“? Von einer Aufnahme ist noch nicht die Rede, doch die einzige moderne CD-Einspielung auf dem Markt ist eine 20 Jahre alte Produktion Valery Gergievs mit dem Petersburger Kirov-Theater.
Aber erstmal kommt das KosakenDrama auf die Bühne in Gera, wo es bereits 1948 mit großem Erfolg aufgeführt wurde. Von der Musik ist Kuntze vollauf überzeugt, „weil ja Tschaikowsky qualitativ zwischen ,Onegin‘, ,Masepa‘ und ,Pique Dame‘ keinen Einbruch hatte“. Wie bei den beiden anderen Opern, die weltweit zum Repertoire zählen, griff der Komponist auf eine literarische Vorlage Puschkins zurück. Mit den historischen Begebenheiten, die darin verhandelt werden, muss der hiesige Zuschauer allerdings nicht übermäßig vertraut sein.
Es ist, wie Kuntze gesteht, ein „erschreckendes Stück“. Der Gutsbesitzer Kotschubej und Masepa sind lebenslange Männerfreunde – bis zu dem Tag, da der eine beim anderen um dessen Tochter anhält. Ausgerechnet um Maria. Sie ist 15, Masepa 63 – und ihr Taufpate! Der entsetzte Kotschubej versucht die unstatthafte Liaison zu hintertreiben, indem er ein Komplott Masepas beim Zaren anzeigt. Peter, den wir heute „den Großen“nennen, schenkt jedoch dem Falschen Glauben: Er lässt Kotschubej verhaften und in die Hände des vermeintlich treuen Masepa geben. Wir schreiben das Jahr 1709. Zwischen Russland und Schweden tobt der Große Nordische Krieg um die Vorherrschaft im Ostseeraum und in Osteuropa. Karl XII. scheint die Überhand zu gewinnen, zumal die Kosaken unter Masepas Führung auf seine Seite überlaufen, um sich von der russischen Dominanz zu befreien. Doch in der Schlacht bei Poltawa entscheidet Peter I. den Kampf für sich. Aus heutiger Sicht ist es vielleicht das Initial für ein aufkeimendes russisches Nationalbewusstsein; zumindest sind dieser Krieg und diese Schlacht in allen beteiligten Ländern stark mit patriotischen Gefühlen verbunden.
Kuntze abstrahiert in seiner Inszenierung davon. Für ihn ist die Auseinandersetzung Kotschubejs mit Masepa das Maßgebliche. „Diese beiden Männer nutzen ihre politische und militärische Macht, um ihren privaten Zwist auszutragen“, erklärt er. Nach Parallelen in unserer Zeit muss man, ohne dass Kuntze es provoziert, nicht lange suchen: „Wir sind zunehmend von diesen autokratischen, egomanen Männern umgeben, die Präsidenten werden und von denen man den Eindruck gewinnen muss, dass es ihnen in erster Linie darum geht, dass sie ihr Ego durchsetzen.“
Musikalisch arbeitet Tschaikowsky wieder mit großem Besteck. Nach dem intimen lyrischen Kammerspiel des „Eugen Onegin“staffiert er „Masepa“mit großen Balletten, folkloristischen Chorszenen und praller Sinfonik aus. Kein Akt ohne üppiges Vorspiel; in dem des Finales ist sogar die Schlacht bei Poltawa lautmalerisch eingearbeitet. Dazu griff der Komponist nicht zuletzt auf Material aus seiner „Ouvertüre 1812“zurück (die sich allerdings auf die napoleonischen Kriege bezieht).
All das unterstreicht einen disparaten Charakter des Werks und lässt den Zuschauer vor der Unausweichlichkeit, mit der das monströse Geschehen abläuft, erschaudern. Kuntze vergleicht den Plot nicht umsonst mit Verdis „Macht des Schicksals“. Denn jenseits der politisch-militärischen Auseinandersetzung ringt im Auge dieses Orkans ein unschuldignaives Mädchen um ihr privates Glück. „Maria ist so blutjung, völlig unerfahren, und stolpert da in eine Amour fou hinein“, zeigt der Regisseur Mitleid mit der tragischen Frauenfigur. Ohne dass sie es weiß, bedeutet ihr Treuebekenntnis zu Masepa für ihren Vater die Hinrichtung.
Emotional aushalten kann man ein so starkes Stück eigentlich nur dank der romantischen Klangmassage fürs Nervenkostüm. Die Gefühle Masepas für Maria werden, so Kuntze, musikalisch sehr echt dargestellt, „da ist kein doppelter Boden“. Was bleibt also am Ende? Für Kotschubej die Exekution, für Masepa die verlorene Schlacht, für Maria der Wahnsinn – und für die Theaterbesucher mutmaßlich viel An- und Aufregung auf hohem Niveau.
Der Tonschöpfer arbeitet mit großem Besteck