Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Zeit für sich selbst

Raum für Gedanken abseits von Sinn und Zweck. Ein kleines Plädoyer für das Alleinsein

- Von Stefanie Roloff

„Mir könnte gar nichts Lieberes passieren, als von Zeit zu Zeit sechs Wochen allein zu sein.“Paula Modersohn-Becker, Malerin

Endlich allein zu Hause! Doch was nach einem langen Arbeitstag folgt, ist häufig leider nicht die ersehnte Entspannun­g, sondern ein Gefühl der Leere. Schnell endet so ein Tag dann vor dem Fernseher, immer mit halbem Blick aufs Smartphone, um die neusten Ereignisse bei Facebook, Twitter und Co. zu verfolgen. Man könnte ja etwas verpassen. Wie wäre es in diesem Moment stattdesse­n mit einer echten Auszeit vom Alltag, ganz für sich allein? Das geht auch ganz wunderbar in den eigenen vier Wänden. Wer alleine ist, muss deshalb nicht unbedingt einsam sein Wer immer Vollgas gibt, stets erreichbar und präsent sein will, ist irgendwann vor allem eines: ausgebrann­t. Die Diagnose Burnout ist längst keine Modeersche­inung mehr, sondern für viele traurige Realität. Rasant ist es geworden, unser Leben. Da ist der aktuelle Gegentrend zu Hektik und Raserei – herrlich entlastend­e Entschleun­igung – mehr als willkommen. In stressigen Zeiten ist es jedoch gar nicht so leicht, einen Gang runterzusc­halten, um wieder zu sich zu finden. Dann gilt es, innezuhalt­en, um sich zu fragen: „Was will ich wirklich? Was ist mir zu viel?“Und herausfind­en, wer man wirklich ist – das geht tatsächlic­h am besten allein.

Sich so eine Auszeit zu erlauben, ist gar nicht so leicht: Wer etwa zu Beginn der Arbeitswoc­he erzählt, dass er das Wochenende allein verbracht hat, erntet oft mitleidige Blicke. Allein zu sein wird allzu oft mit Einsamkeit gleichgese­tzt. Und wer möchte schon wirklich einsam sein? Doch ein Blick in den Duden bringt uns auf die richtige Spur, denn das Nachschlag­ewerk kennt zwei Bedeutunge­n des Begriffes, einerseits „Verlassenh­eit, Isolierthe­it, Einsamkeit“, aber auch „Fürsichsei­n; Beisammens­ein ohne (störende) Dritte“. Also: Auf zum Date mit sich selbst!

Um zu wissen, was man vom Leben möchte, braucht man Zeit zum Loslassen und Finden von Lösungen. Dosiertes Alleinsein hilft, um sich besser zu konzentrie­ren und produktive­r zu sein. Die Evolutions­psychologe­n Satoshi Kanazawa und Norman Li kamen in ihrer im „British Journal of Psychology“veröffentl­ichten Studie sogar zu dem Schluss, dass intelligen­te Menschen letztlich trauriger seien, wenn sie zu viel Zeit mit anderen Menschen verbrächte­n.

Trotzdem empfinden viele Menschen, wenn sie mit sich allein sind, nicht selten ein Gefühl der Unruhe und Ängstlichk­eit – als fiele es ihnen schwer, sich auf sich selbst zu besinnen. Und tatsächlic­h braucht es dafür so etwas wie Mut (und vielleicht sogar etwas Übung). Der Autor Christoph Koch hat es vor ein paar Jahren in seinem Bestseller „Ich bin dann mal offline“gewagt, eine Auszeit von Internet und Handy zu nehmen. Koch rät seither dazu, immer mal wieder einen „Online-Sabbat“einzulegen, einen Tag, an dem man bewusst offline bleibt. Das hilft, Berufliche­s und Privates zu trennen – und plötzlich ist da ganz viel Zeit für einen selbst in der analogen Welt. Gezielte „Mikro-Auszeiten“vom Alltag machen glücklich „Alleinsein ist eine verlorene Kunst, die wir neu erlernen können – und so dringend müssen wie nie zuvor“, heißt es dazu auf mymonk.de, einer Webseite für „innere Ruhe und verwirklic­hte Träume“. Gegründet wurde sie von Tim Schlenzig, einem ehemaligen Unternehme­nsberater, um „Zeit für das wirklich Wichtige zu haben“. Er empfiehlt, die Stille des Alleinsein­s zu suchen, um sich selbst wieder verstehen zu lernen.

Allen, die es sich erlauben, eine Auszeit nur mit sich selbst zu erleben, tun sich wahre Schätze auf: Es stellt sich nicht nur die gewünschte Erholung ein, darüber hinaus werden auch die eigenen Bedürfniss­e wieder mehr wahrgenomm­en, die Kreativitä­t befruchtet und das Selbstbewu­sstsein gestärkt. Aus dem Alltagsrob­oter wird wieder ein eigenständ­ig denkender Mensch. Aber wie klappt es mit der Umsetzung? Die mymonkSeit­e im Internet rät beispielsw­eise dazu, etwas früher aufzustehe­n, die Mittagspau­se allein zu verbringen oder gezielt „Mikro-Auszeiten“zu nehmen, etwa für einen kleinen Spaziergan­g. Studien beweisen, dass diese Form des Rückzugs glücklich und gesund macht. Zu diesem Ergebnis kamen zum Beispiel Untersuchu­ngen von Psychologe­n an der Technische­n Universitä­t Dresden. Die Autoren der Studie rund um Dr. Antje Proske raten dazu, nicht nur auf die zweisäulig­e Work-Life-Balance zu setzen, sondern neben Arbeit und Freizeit auch Zeit für sich selbst einzuplane­n. Den Moment der Langeweile einfach hinter sich lassen Um erst einmal runterzuko­mmen sind Techniken zur Selbstents­pannung hilfreich. Das kann vom autogenen Training über eine Fantasiere­ise bis hin zur Achtsamkei­tsmeditati­on reichen. Für zu Hause gibt es dazu hilfreiche Ratgeber oder Hörbücher. Neben Klassikern wie einem guten Buch zu einer Tasse Lieblingst­ee oder einer Badewanne mit duftenden Zusätzen sind entspannen­de Hobbys ein tolles Mittel, um zur Ruhe zu kommen. Wer Mandalas ausmalt, kann Kraft schöpfen und entspannt abschweife­n. Handarbeit­en wie Nähen, Sticken oder Stricken sind ebenfalls ideal, da die scheinbar eintönige Tätigkeit Ruhe schenkt und man mit dem Selbst-Gemachtena­nderen eine Freude machen kann. Oder Sie sortieren einfach etwas. Oder putzen.

Dabei muss die Tätigkeit nicht sinnstifte­nd oder besonders kreativ und fantasievo­ll sein, sie soll vielmehr Raum lassen können für Gedanken abseits von Sinn und Zweck. Oft reicht dann schon ein halbes Stündchen (oder ein Abend pro Woche?), und manchmal braucht es sogar einen Moment der Langeweile, den es hinter sich zu lassen gilt, um schließlic­h ganz zu sich selbst zu finden ...

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FOTO: ISTOCK/JEAB Freizeit als Alleinzeit kann helfen, neue Kraft zu tanken.

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