Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Zeit für sich selbst
Raum für Gedanken abseits von Sinn und Zweck. Ein kleines Plädoyer für das Alleinsein
„Mir könnte gar nichts Lieberes passieren, als von Zeit zu Zeit sechs Wochen allein zu sein.“Paula Modersohn-Becker, Malerin
Endlich allein zu Hause! Doch was nach einem langen Arbeitstag folgt, ist häufig leider nicht die ersehnte Entspannung, sondern ein Gefühl der Leere. Schnell endet so ein Tag dann vor dem Fernseher, immer mit halbem Blick aufs Smartphone, um die neusten Ereignisse bei Facebook, Twitter und Co. zu verfolgen. Man könnte ja etwas verpassen. Wie wäre es in diesem Moment stattdessen mit einer echten Auszeit vom Alltag, ganz für sich allein? Das geht auch ganz wunderbar in den eigenen vier Wänden. Wer alleine ist, muss deshalb nicht unbedingt einsam sein Wer immer Vollgas gibt, stets erreichbar und präsent sein will, ist irgendwann vor allem eines: ausgebrannt. Die Diagnose Burnout ist längst keine Modeerscheinung mehr, sondern für viele traurige Realität. Rasant ist es geworden, unser Leben. Da ist der aktuelle Gegentrend zu Hektik und Raserei – herrlich entlastende Entschleunigung – mehr als willkommen. In stressigen Zeiten ist es jedoch gar nicht so leicht, einen Gang runterzuschalten, um wieder zu sich zu finden. Dann gilt es, innezuhalten, um sich zu fragen: „Was will ich wirklich? Was ist mir zu viel?“Und herausfinden, wer man wirklich ist – das geht tatsächlich am besten allein.
Sich so eine Auszeit zu erlauben, ist gar nicht so leicht: Wer etwa zu Beginn der Arbeitswoche erzählt, dass er das Wochenende allein verbracht hat, erntet oft mitleidige Blicke. Allein zu sein wird allzu oft mit Einsamkeit gleichgesetzt. Und wer möchte schon wirklich einsam sein? Doch ein Blick in den Duden bringt uns auf die richtige Spur, denn das Nachschlagewerk kennt zwei Bedeutungen des Begriffes, einerseits „Verlassenheit, Isoliertheit, Einsamkeit“, aber auch „Fürsichsein; Beisammensein ohne (störende) Dritte“. Also: Auf zum Date mit sich selbst!
Um zu wissen, was man vom Leben möchte, braucht man Zeit zum Loslassen und Finden von Lösungen. Dosiertes Alleinsein hilft, um sich besser zu konzentrieren und produktiver zu sein. Die Evolutionspsychologen Satoshi Kanazawa und Norman Li kamen in ihrer im „British Journal of Psychology“veröffentlichten Studie sogar zu dem Schluss, dass intelligente Menschen letztlich trauriger seien, wenn sie zu viel Zeit mit anderen Menschen verbrächten.
Trotzdem empfinden viele Menschen, wenn sie mit sich allein sind, nicht selten ein Gefühl der Unruhe und Ängstlichkeit – als fiele es ihnen schwer, sich auf sich selbst zu besinnen. Und tatsächlich braucht es dafür so etwas wie Mut (und vielleicht sogar etwas Übung). Der Autor Christoph Koch hat es vor ein paar Jahren in seinem Bestseller „Ich bin dann mal offline“gewagt, eine Auszeit von Internet und Handy zu nehmen. Koch rät seither dazu, immer mal wieder einen „Online-Sabbat“einzulegen, einen Tag, an dem man bewusst offline bleibt. Das hilft, Berufliches und Privates zu trennen – und plötzlich ist da ganz viel Zeit für einen selbst in der analogen Welt. Gezielte „Mikro-Auszeiten“vom Alltag machen glücklich „Alleinsein ist eine verlorene Kunst, die wir neu erlernen können – und so dringend müssen wie nie zuvor“, heißt es dazu auf mymonk.de, einer Webseite für „innere Ruhe und verwirklichte Träume“. Gegründet wurde sie von Tim Schlenzig, einem ehemaligen Unternehmensberater, um „Zeit für das wirklich Wichtige zu haben“. Er empfiehlt, die Stille des Alleinseins zu suchen, um sich selbst wieder verstehen zu lernen.
Allen, die es sich erlauben, eine Auszeit nur mit sich selbst zu erleben, tun sich wahre Schätze auf: Es stellt sich nicht nur die gewünschte Erholung ein, darüber hinaus werden auch die eigenen Bedürfnisse wieder mehr wahrgenommen, die Kreativität befruchtet und das Selbstbewusstsein gestärkt. Aus dem Alltagsroboter wird wieder ein eigenständig denkender Mensch. Aber wie klappt es mit der Umsetzung? Die mymonkSeite im Internet rät beispielsweise dazu, etwas früher aufzustehen, die Mittagspause allein zu verbringen oder gezielt „Mikro-Auszeiten“zu nehmen, etwa für einen kleinen Spaziergang. Studien beweisen, dass diese Form des Rückzugs glücklich und gesund macht. Zu diesem Ergebnis kamen zum Beispiel Untersuchungen von Psychologen an der Technischen Universität Dresden. Die Autoren der Studie rund um Dr. Antje Proske raten dazu, nicht nur auf die zweisäulige Work-Life-Balance zu setzen, sondern neben Arbeit und Freizeit auch Zeit für sich selbst einzuplanen. Den Moment der Langeweile einfach hinter sich lassen Um erst einmal runterzukommen sind Techniken zur Selbstentspannung hilfreich. Das kann vom autogenen Training über eine Fantasiereise bis hin zur Achtsamkeitsmeditation reichen. Für zu Hause gibt es dazu hilfreiche Ratgeber oder Hörbücher. Neben Klassikern wie einem guten Buch zu einer Tasse Lieblingstee oder einer Badewanne mit duftenden Zusätzen sind entspannende Hobbys ein tolles Mittel, um zur Ruhe zu kommen. Wer Mandalas ausmalt, kann Kraft schöpfen und entspannt abschweifen. Handarbeiten wie Nähen, Sticken oder Stricken sind ebenfalls ideal, da die scheinbar eintönige Tätigkeit Ruhe schenkt und man mit dem Selbst-Gemachtenanderen eine Freude machen kann. Oder Sie sortieren einfach etwas. Oder putzen.
Dabei muss die Tätigkeit nicht sinnstiftend oder besonders kreativ und fantasievoll sein, sie soll vielmehr Raum lassen können für Gedanken abseits von Sinn und Zweck. Oft reicht dann schon ein halbes Stündchen (oder ein Abend pro Woche?), und manchmal braucht es sogar einen Moment der Langeweile, den es hinter sich zu lassen gilt, um schließlich ganz zu sich selbst zu finden ...