Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Das genialste System der Altersversorgung retten“
Dagmar Hühne und Holger Balodis treten gegen die „VorsorgeLüge“an und setzen auf eine verbesserte staatliche Rente
WEIMAR. Als Norbert Blüm (CDU) in den 1980ern in der alten Bundesrepublik Minister war, hat er gesagt: Die Rente ist sicher. Heute kursiert dieses Versprechen als bitterer Witz. Wenn Holger Balodis und Dagmar Hühne, beide Jahrgang 1960, wie jüngst in Thüringen mit Arbeitnehmern sprechen, begegnet ihnen immer wieder eine Aussage, die sie für einen Irrglauben halten: Aufgrund der Demografie sei künftig keine ausreichende Rente mehr finanzierbar, werde gesagt. „Und die Menschen, die das sagen, glauben auch, dass eine private Alternative hier besser helfen könnte, dass sie renditestärker und effektiver sei“, sagt Balodis. Diese Art des Irrglaubens werde von Lobbyisten und von manchen Politikern genährt. „Der Glaube, dass es anders geht, ist verloren gegangen“, sagt Hühne. Die beiden Autoren halten das für fatal.
Holger Balodis und Dagmar Hühne, beide Jahrgang 1960, berichten seit mehr als 20 Jahren beispielsweise für die ARD-Magazine „Plusminus“, „Ratgeber Recht“und „Monitor“. Sie sind Experten auf den Gebieten Altersvorsorge und Versicherungen und haben bereits mehrere Bücher für die Verbraucherzentralen, Stiftung Warentest, den Econ-Verlag und aktuell für den Westend-Verlag rund um die Rente verfasst. Ihre neustes Werk heißt „Die Vorsorge-Lüge“und zeigt auf: „Wie Politik und private Rentenversicherungen uns in die Altersarmut treiben“. Im Frühling waren sie damit an vier Orten in Thüringen auf Lesereise – und flankierten so die DGB-Aktion „rente-mussreichen.de“.
Die aktuelle Lage ist alles andere als rosig, wie die Journalisten sagen. „Mehr als 40 Prozent der versicherungspflichtig Beschäftigten werden in folgende Situation hineingeraten: Angesichts ihrer heutigen Einkünften wird ihre spätere Rente unter dem Grundsicherungsniveau liegen. Das heißt: Wir haben heute 13 Millionen Beschäftigte, die so schlecht verdienen, dass sie später weniger als derzeit 800 Euro rauskriegen werden“, umreißt Balodis das sich anbahnende Problem mit der Altersarmut. Statt nun aber die staatliche Rente schlecht zu rechnen, sei es wichtig, andere Lösungen zu finden – zum Beispiel für Frauen, die lange in Teilzeit gearbeitet haben. Das jetzige ÄquivalenzPrinzip sieht vor: Wer wenig verdient, kriegt noch weniger Rente. Balodis könnte sich eine Aufstockungsmodell vorstellen – eine Forderung, die auch der DGB und Einzelgewerkschaften aufmachen. „Wir könnten uns auch vorstellen, dass eine Art Mindestrente eingeführt wird“, sagt Balodis und verweist auf „Österreich, Schweiz und viele Nachbarstaaten“. Damit wäre jeder, der 30, 35 und mehr Jahre gearbeitet hat, im Alter deutlich besser versorgt als mit der Grundsicherung, die vorgesehen ist für Menschen, die wenig bis nichts gearbeitet haben. „Das ist nur recht und billig. Und ist auch finanzierbar“, ist sich Balodis sicher.
Dagmar Hühne erinnert im TLZ-Gespräch daran, unter welchen Bedingungen Blüm einst sein Renten-Versprechen abgegeben hatte. „Er musste die Leute in ihrem Glauben bestärken“, sagt sie, denn ein „gewisses Vertrauen“sei erforderlich, damit die gesetzliche Rente mit ihrem Umlageverfahren weiterhin trägt. „Bisher hat es immer funktioniert. Aber heute ist es offenbar so, dass viele den Versprechen der Allianz oder Ergo mehr glauben als der gesetzlichen Regelung.“Wobei die Menschen nicht von alleine misstrauisch wurden. „Das Vertrauen wurde gezielt zerstört“, ist sich die Journalistin sicher. Für sie aber ist das deutsche Rentensystem weiterhin „das genialste System der Altersversorgung, was es eigentlich gibt auf der Welt“. Hühne verweist darauf, dass das staatliche Rentensystem „inflationssicher und krisenfest“sei, so lange es Menschen gibt, die arbeiten gehen, gute Löhne erhalten und ihre Beiträge bezahlen können. „Ist das gegeben, können gute Renten bezahlt werden“, ist sie überzeugt.
Mit Blick auf die bereits in der zweiten oder dritten Generation sinkende Geburtenraten scheint aber das ganze System aus den Fugen geraten und in den Grundfesten erschüttert worden zu sein. Hühne räumt „ein kleines Problem“ein, wenn die Babyboomer – also die Generation der heute Mitt-50er – in Rente gehen. „Aber die Anzahl Beschäftigten. „Zwölf Millionen arbeiten und verdienen, zahlen aber nicht in die Sozialkassen ein.“Derweil schrumpfe die Zahl der Einzahler bis im Jahr 2030 um 6 Millionen.
der Kinder ist nicht entscheidend für das Funktionieren des Gesamtsystems gesetzliche Rente“, sagt sie und verweist auf den „gewaltigen Produktivitätsfortschritt, der die Finanzierung immer sicher gestellt hat.“Soll heißen: „Wir müssen die Anzahl der Menschen, die in das System einzahlen, stabilisieren.“Mehr Beitragszahler: Das sind aus Sicht der Buchautoren nicht in erster Linie nur die Berufseinsteiger, sondern auch jene, die etwa schon zu Zeiten von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) in eine altersarm machende Selbstständigkeit gedrängt worden seien. Wichtig: „Bessere Löhne für mehr Beiträge und mehr Beitragszahler: Dann haben wir schon viele Probleme gelöst“, so Hühne.
Balodis spricht von einem „riesigen Reservoir“an Personen, die für die Einzahlung in die staatliche Rente herangezogen werden könnten. In deutschlandweiten Zahlen bedeutet dies: Es gibt 44 Millionen Erwerbstätige bei lediglich 32 Millionen versicherungspflichtig
„Wenn wir also das Reservoir an Freiberuflern wie Ärzte und Notare, Beamten, Minijobbern, Politiker, Spitzenmanager ausschöpfen und Arbeitslose animieren, könnten wir spielend ein großes Potenzial ausschöpfen. Wenn nur die Hälfte von ihnen einzahlen würden, dann hätten wir auch wieder ein stabiles System“, so Balodis.
Für die Zeit nach dem weitgehenden Ableben der Babyboomer – so um 2060 herum – reicht nach den Berechnungen, auf die sich Dagmar Hühne und Holger Balodis stützen, auch wieder eine Geburtsrate von etwa 1,5, wie sie derzeit üblich ist.
Die Frage ist zudem, welche Rolle der Staat bei der Rente spielt. 1957 wurde im Westen die Drittel-Parität „erfunden“, wie Balodis sagt: Ein Drittel sollte von den Arbeitnehmern, ein weiteres Drittel von den Arbeitgebern kommen – und ein Drittel sollte der Staat beisteuern. „Von dieser Drittellösung sind wir heute weit entfernt.“Der Bundesanteil liege „deutlich unter 30 Prozent“. Und falsch sei, wenn der Staat so tue, als finanziere er aus reiner Großzügigkeit die Rente mit. „Wenn es etwa um die Angleichung der Renten West-Ost geht, dann ist das eine politische Maßnahme; für die hat der Staat aufzukommen und nicht der Beitragszahler“, hebt Balodis hervor. „Und wenn der Finanzminister den Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben, eine Mütterrente bezahlen will, muss er das aus Bundesmitteln finanzieren, weil dafür keine Beiträge geflossen sind“, sagen die beiden Autoren.
„Es gibt schlaue Rechner, die herausgefunden haben, dass von 1957 bis heute der Bund in die Rentenversicherung 750 Milliarden zu wenig einbezahlt hat. Das klingt abstrus hoch, aber es ist auch ein langer Zeitraum und es zeigt, dass der Bund tendenziell seinen Verpflichtungen nicht entsprochen hat, anders als in anderen Ländern“, so Balodis. Für ihr neues Buch haben sie recherchiert, dass etwa in Dänemark und Österreich der Staat „wesentlich verantwortlicher“handele, wenn es um die Rente gehe.
Ein Kritikpunkt bei der Rente lautet heutzutage oft: Rentner kommen zu früh in Genuss der Alterssicherung, leben dann noch Jahrzehnte. Für eine so lange Rentenphase sei das System gar nicht konzipiert. Tatsächlich liegt nach Angaben von Hühne und Balodis die Rentenlaufzeit „statistisch derzeit bei knapp 20 Jahren“. Ihrer Ansicht nach allerdings ist das derzeitige Renteneintrittsalter „ausreichend, wenn es möglichst für alle bei 65 bliebe.“Wobei sich Balodis
durchaus für Modelle wie die Flexi-Rente und einen späteren Renteneintritt erwärmen kann – „für den, der es kann und will“. Bisher sei es aber eher so, dass Arbeitnehmer mit Ende 50 aus den Betrieben hinausgedrängt würden.
Dagmar Hühne wirft ein, dass längeres Verbleiben im Job auch oft daran scheitere, dass die Arbeitsbedingungen „sehr stressig, sehr intensiv“geworden seien – anders noch als vor zwei, drei Jahrzehnten. Zum Beispiel in der Pflege, wo es immer weniger Personal gebe. „Viele müssen immer am Anschlag arbeiten. Schon mit Mitte, Ende 50 kommen sie dann an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und können mit Anfang 60 nicht mehr“, gibt sie zu bedenken. Deshalb sei es, sagt Hühne, ein Kurzschluss im Denken, wenn es heiße: Wir werden alle 85, da können wir doch ruhig bis 75 arbeiten...
In ihrem Buch skizziert das Autorenduo „eine Art Masterplan, wie eine Rente wirklich funktionieren kann“, so Balodis. „Wichtig ist uns zu sagen: Es ist kein Naturgesetz, dass die Renten immer weiter sinken. Es gibt viele Möglichkeiten, dass die Menschen von der Rente wieder leben können und dass sich die
künftigen Rentner auf diese Rente verlassen können und nicht Angst haben müssen“, so Hühne. Sie und ihr Kollege wollen dafür sorgen, dass Menschen, die jetzt im Berufsleben stehen, nicht „aus Verzweiflung und Angst unsinnige private Rentenversicherungen abschließen.“Dabei spricht sie sich nicht generell gegen private Vorsorge fürs Alter aus – bei denen, die es sich leisten können. Sie hat aber etwas „gegen den Zwang, der da aufgebaut worden ist“. Wichtig sei, dass wieder gelte: Die Grundversorgung passiert über die gesetzliche Rente. Utopisch? Nein, sagt Dagmar Hühne. „Das ist möglich.“
Derzeit liege die „StandardEckrente einer Person, die 45 Jahre gearbeitet hat, bei 1370 Euro“, sagt Balodis. „Es muss einen deutlichen Aufschlag geben.“Aus seiner Sicht müsste diese Standard-Eckrente mehr als 1500 Euro brutto betragen. Dann könnte sich der durchschnittliche Arbeitnehmer „riestern und private Versicherungsverträge“sparen.