Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Ahnung, tiefergelegt
Jetzt, da wir gerade vom Strand zurückkehren, vorzeitig, weil wir ja diese Kolumne zu schreiben haben, und weil sich sowieso die Ferienzeit neigt, was so eigentlich nicht stimmt, denn die Ferienzeit neigt sich zu jeder Zeit und zwar vom ersten Ferientag an – jetzt also, den Computer schon vor Augen und das Meer noch im Rücken, kommt uns die Frage in den Sinn, warum es uns eigentlich immer wieder an den Strand zieht, ans Wasser, ans Meer?
Gut, mag sein, wir haben für diesmal zu viel Sonne abbekommen, was den verschwurbelten Satzbau erklären würde, aber sie ist nun einmal da, die Frage, und sie geht uns nach, erst zum Wäscheplatz, wo wir die nassen Badetücher auf die Leine hängen, und dann huscht sie auch mit durch die Tür, in den dunklen Raum, ins DarkOffice, wo der geheime EinwurfComputer steht und daneben die Kaffeetasse von voriger Woche.
Hier haben wir schon so viel Schönes & Erhellendes geschrieben, über das Leben zu Beispiel und warum es nicht funktioniert, und eigentlich sollten wir das auch heute wieder tun, aber das ist nun einmal diese Frage. Warum also?
Sind vielleicht unsere Eltern schuld, weil die uns Sommer für Sommer an die Ostsee verschleppt haben oder steckt doch mehr hinter der Sehnsucht nach Meer? Dabei gibt es doch keinen unwirtlicheren Lebensraum als diesen. Einmal abgesehen davon, dass preiswerte Strandquartiere knapp sind, erfüllt das Meer doch keines unserer Grundbedürfnisse. Man kann es nicht trinken, essen auch nicht, es ist nass und kalt, und darüber wandeln konnte bisher nur einer, was aber nicht als gesichert gilt. Die Erklärung muss also tiefer liegen, viel tiefer. Wir schwärmen für tiefergelegte Erklärungen, weil sie magisch sind wie Sonnenuntergänge. Das Licht des Wissens schwindet hinterm Horizont und dunkles Ahnen steigt auf. Eine Ahnung, eine komplexe genetische Erinnerung daran, wie das war, als wir – also nicht wir persönlich, aber immerhin – vor Jahrmillionen aus dem Urmeer gestiegen sind.
Wobei stiegen leicht übertrieben ist, wir werden wohl eher gekrochen sein, blind und bedeppt, mikrobisch klein. Und sehet, was aus uns geworden ist! Wir beherrschen die sieben Meere – aber über den Ozean als größtes Ökosystem der Erde wissen wir fast nichts. Wir verlangen saubere Strände, bekommen aber klamme Finger, wenn wir Kurtaxe zahlen sollen.
Eigentlich müsste man uns dorthin zurückschicken, woher wir kamen. Eine Seebestattung für die Menschheit, aber wer will das schon. Wir wollen doch nur ans Meer. Es ist höchste Zeit für den Sonnenuntergang. Die Kaffeetasse räumen wir dann morgen weg.