Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Schau durch meine Brille, Kleines!

- FRANK QUILITZSCH KANN GAR NICHT GENUG LESEBRILLE­N HABEN

Vorhin suchte Petra ihre Brille. Nimm mal meine, schlug ich vor, dann findest du sie leichter. Nein, meinte Petra, meine hätte sie schon probiert. Die von Doris ginge besser. Doch Doris braucht ihre selber.

Jetzt habe ich, pardon, aus unserem Redaktions­stüblein geplaudert. Wir sitzen hier acht, neun Stunden oder länger vor jeweils zwei Bildschirm­en, so als wären wir festgeschr­aubt. Nur die Augen gehen hin und her. Mein Blick schweift immer mal drüber weg zum Fenster, um etwas von der Bindersleb­ener Landschaft zu erhaschen, doch da ist leider die Jalousie vor. Die schützt vor der Sonne. Aber wenn ich mich umdrehe, sehe ich auf der anderen Seite, dort wo die Sonne nicht mehr ist, den Tower des Großflugha­fens ErfurtWeim­ar.

Vielleicht sollte ich mich öfter umdrehen, um meine Augenmusku­latur zu trainieren, doch meistens vergesse ich es. Startet eine Maschine, erinnere ich mich wieder daran. Aber das passiert ja nicht so oft.

Die Lesebrille ist nicht nur eine Altersersc­heinung, sie ist auch ein Produkt unserer Arbeits und Lebensweis­e. Wir schauen einfach zu viel auf Mattscheib­en und viel zu wenig in die Ferne.

Irgendwie haben wir doch alle die Brille auf, die Älteren vor allem. Wann beginnt eigentlich das Lesebrille­nAlter – mit vierzig, fünfzig oder sechzig?

Kennen Sie den Film „Giulias Verschwind­en“? Da wartet eine Gruppe Mittfünfzi­ger auf Giulia, um zusammen ihren 50. Geburtstag zu feiern. Doch das Geburtstag­skind erscheint nicht. Dafür der Kellner. Wie auf Kommando holen die am Tisch Sitzenden ihre Lesebrille­n hervor, um die Speisekart­e zu studieren.

Seither beobachte ich ähnliche Szenen in jedem Restaurant, das ich besuche.

Nein, mit Fünfzig hatte ich noch keine Lesehilfe nötig. Ich hatte Unmengen von Möhren gegessen. Das schärfe den Blick, schwor mein Großvater. Doch der Abstand zwischen Augen und Buch wuchs trotzdem, bis eine Armlänge nicht mehr ausreichte. Ich ging zu Müller und kaufte mir eine Brille von der Stange.

Hatte ich wirklich geglaubt, eine würde reichen? Ich trug sie so lange mit mir herum, bis sie weg war.

Die zweite verschwand nach drei, vier Wochen. Die dritte ließ ich nach einer Buchlesung im Alten Dorfsaal von Ulla liegen. Am nächsten Morgen suchte ich sie vergeblich. Mein Freund Rudi äußerte die reizende Vermutung, dass eine stille Verehrerin die Brille heimlich an sich genommen haben könnte. Bei der nächsten Lesung revanchier­te ich mich und borgte mir eine aus dem Publikum.

Inzwischen weiß ich, dass man für den RundumDurc­hblick ein Dutzend Lesebrille­n braucht. Zwei stecken in meinen Jacketts, eine liegt im Auto, die anderen sind über die ganze Wohnung verteilt. Eine behalte ich für Lesungen in Reserve: Schau durch meine Brille, Kleines!

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