Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Linke attackieren Geheimdienst-Chef Kramer
Der Verfassungsschutz-Präsident muss sich vor dem NSU-Untersuchungsausschuss den Vorwurf anhören, keine eigenen Erkenntnisse zu haben
ERFURT. Nach einer Befragung des Thüringer Verfassungsschutz-Chefs, Stephan Kramer, vor dem NSU-Untersuchungsausschuss hat die Linke ihre Forderung erneuert, den Inlandsnachrichtendienst abzuschaffen.
„Falls es noch irgendein Argument für die Abschaffung des Verfassungsschutzes brauchte, hat Herr Kramer das nun geliefert“, sagte die Linken-Obfrau im Ausschuss, Katharina KönigPreuss, gestern in Erfurt. Es sei nicht hinzunehmen, dass der Verfassungsschutz jedes Jahr mehrere Millionen Euro aus dem Landeshaushalt erhalte, Kramer sich bei seinen Angaben zu mutmaßlichen NSU-Unterstützern aber auf WikipediaWissen beziehe.
Kramer hatte vor dem Gremium erklärt, aus öffentlich zugänglichen Quellen sei bekannt, dass 150 bis 200 Neonazis als „potenzielle Unterstützer“des „Nationalsozialistischen Untergrunds“(NSU) gelten würden. Auf den Hinweis von KönigPreuss, es gebe diese Zahl nicht in öffentlich zugänglichen Quellen, erklärte Kramer, sie lasse sich bei Wikipedia finden.
Tatsächlich ist in der OnlineEnzyklopädie unter dem Eintrag „Nationalsozialistischer Untergrund“vermerkt, die Zahl der lokalen und überregional vernetzten Unterstützer des NSU werde „auf 100 bis 200 geschätzt, darunter V-Personen und Funktionäre rechtsextremer Parteien“. Eine Quellenangabe zu dieser Aussage findet sich bei Wikipedia nicht. Die SPD-Innenpolitikerin Dorothea Marx kritisierte die Reaktion der Linken auf Kramers Äußerungen. „Die Forderung der Linken, den Verfassungsschutz abzuschaffen, mit der jüngsten Aussage Stephan Kramers zu begründen, ist absurd“, erklärte die Politikerin in einer Mitteilung. Es sei ebenso absurd, aus der Antwort des Präsidenten „zu konstruieren, der Verfassungsschutz bezöge sein Wissen aus Wikipedia und sei daher überflüssig.“
Kramer hatte vor dem Untersuchungsausschuss auch erklärt, für ihn komme jeder Rechtsextremist als potenzieller NSU-Unterstützer in Frage, der die Mitglieder des Kerntrios aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe in den 1990er Jahren gekannt habe.
König-Preuss kritisierte ebenso wie der CDU-Obmann im Ausschuss, Jörg Kellner, auch diese Aussage Kramers. „Ein reines Kennverhältnis reicht nicht aus, dann bewegen wir uns in einem spekulativen Rahmen“, sagte König-Preuss. Sie sei erschüttert, dass ein Verfassungsschutz-Präsident mit solchen Spekulationen arbeite.
Kellner sagte, Kramer habe bei ihm mit Äußerungen in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, er habe viel mehr Kenntnisse über mögliche NSU-Unterstützer, als bei ihm offenbar tatsächlich vorhanden seien.
Als Reaktion auf die Urteile im Münchner NSU-Prozess hatte Kramer im Juli gesagt, in Thüringen würden ihm bis heute aktive Neonazis begegnen, „die in der damaligen Zeit Verbindungen zum Trio hatten“.
Die bislang bekannten Mitglieder des NSU stammen aus Jena. Nach ihrem Untertauchen begannen sie eine Mordserie , der in ganz Deutschland zehn Menschen zum Opfer fielen. (dpa)