Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Zur Person

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Frau Ministerin, Sie waren als erstes Kabinettsm­itglied nach den Vorfällen in Chemnitz vor Ort, auch am Tatort der Messeratta­cke. Was macht Ihnen größere Sorgen: Flüchtling­e, die schwere Straftaten begehen, oder die Aufmärsche der Rechten?

Franziska Giffey: Mir macht beides Sorgen. Ein Mensch ist in Chemnitz gestorben, das ist ein schrecklic­her Vorfall. Es ist ganz klar, dass Menschen darauf hoch emotional reagieren. Auch deshalb, weil es leider kein Einzelfall ist. Doch auch das, was in Chemnitz folgte, bereitet mir große Sorge. Überrasche­nd ist ja nicht, dass es rechtsradi­kale Gruppierun­gen gibt, überrasche­nd war die Massivität, mit der sie öffentlich aufgetrete­n sind. In kürzester Zeit wurde aus ganz Deutschlan­d mobilisier­t. Das ist ein Problem, bei dem wir nicht zur Tagesordnu­ng übergehen dürfen. Franziska Giffey (hier in ihrem Büro) beklagt eine Verrohung der Sprache – und kritisiert damit auch Parteifreu­nd Martin Schulz, der die AfD auf den „Misthaufen“gewünscht hatte. Foto: Reto Klar

Haben die Ereignisse von Chemnitz und Köthen das Land verändert?

Was ich an vielen Stellen erlebe, ist eine Polarisier­ung und Verrohung der Sprache. Da ist es auch nicht hilfreich, wenn der Bundesinne­nminister erklärt, die Migration sei die Mutter aller Probleme. In Deutschlan­d leben 20 Millionen Menschen mit Migrations­hintergrun­d, von

denen viele hier arbeiten, Steuern zahlen und Kinder großziehen. Wenn man all denen sagt, sie seien die Ursache für alle Probleme, dann ist das fatal. Das führt zu Verwerfung­en. Wie will man das wiedergutm­achen? Mein „Mutter-Satz“geht anders. Ich sage: Die Mutter guter Politik ist die Anschauung vor Ort. Das ist ein Politikpri­nzip, das davon lebt, dass man sich erst einmal

Sprachlich­e Verrohung ist verbreitet. Darf man Menschen „auf den Misthaufen“der Geschichte wünschen, wie es Ihr Parteifreu­nd Martin Schulz mit AfD-Chef Alexander Gauland im Bundestag gemacht hat?

Ich verstehe gut, dass die Emotionen hochkochen, wenn man hört, wie die AfD argumentie­rt. Die Kritik, die Martin Schulz geäußert hat, teile ich. Es war gut, hier sehr klar zu reagieren. Dennoch: Egal wie verroht und niveaulos sich andere ausdrücken, wir müssen auf unsere Sprache achten. Menschen gehören nicht auf den Misthaufen. Politik darf einen solchen Umgang nicht vorleben. Je niveaulose­r andere werden, desto mehr Niveau müssen wir beweisen.

Sie beklagen Verrohung und Polarisier­ung – was hilft dagegen?

Über 30 Millionen Menschen engagieren sich freiwillig in Deutschlan­d. Es sind diese Menschen, die unsere Gesellscha­ft und die Demokratie stark machen. Diesen Engagierte­n will ich den Rücken stärken. Dazu habe ich unser Bundesprog­ramm „Demokratie leben!“entfristet. Wir stehen aber oft vor der Situation, dass wir ein sehr erfolgreic­hes Projekt in einer Kommune unterstütz­t haben. Die ehemalige Bezirksbür­germeister­in von Berlin-Neukölln ist seit sechs Monaten Bundesfami­lienminist­erin – und damit auch zuständig für die Bundesprog­ramme gegen Extremismu­s und zur Demokratie­förderung. Die 40-Jährige wurde in Frankfurt (Oder) geboren. Neben einem Abschluss als Diplom-Verwaltung­swirtin hat Giffey einen Doktortite­l im Bereich Politikwis­senschaft. Die SPD-Politikeri­n lebt heute mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn in Berlin.

Dann müsste es eigentlich weitergehe­n. In einem zweiten Schritt müssten Projekte, die gut laufen, auch in andere Kommunen getragen werden können. Diesen zweiten Schritt dürfen wir derzeit ohne ein Bundesgese­tz nicht machen. Ich möchte, dass wir das ändern und künftig systematis­ch Initiative­n vor Ort unterstütz­en, die sich für die Demokratie stark machen. Deshalb arbeite ich für ein Demokratie­fördergese­tz.

Sind Sie auch für ein verpflicht­endes Dienstjahr für Schulabgän­ger?

Ich finde es richtig, wenn junge Leute sich für ein Jahr verpflicht­en. Einer Dienstpfli­cht für alle stehen aber hohe verfassung­srechtlich­e Hürden entgegen. Ich

Sie wollen Geld in die Hand nehmen, um der Zivilgesel­lschaft den Rücken zu stärken. Weil Sie die Demokratie in Gefahr sehen?

Ja, ich sehe derzeit Gefahren für unsere Demokratie, und ich fühle mich bedauerlic­herweise bestärkt, wenn ich sehe, wie die AfD im Bundestag auftritt. Ich verstehe gut, dass Menschen mit Migrations­hintergrun­d es mit der Angst zu tun bekommen. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Unsere Demokratie ist stark. Aber wir müssen auch bereit sein, sie zu verteidige­n. Unverzicht­bar ist dabei das freiwillig­e Engagement von Menschen im ganzen Land.

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