Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Ein Liebling der Götter
Wie der junge, in Weimar ausgebildete Bassbariton Mikhail Timoshenko in eine Sänger-Karriere hineingestolpert und in Paris gelandet ist
Die letale Gefahr des schnellen Ruhms
Als Mozarts Masetto ganz vorn auf der Rampe
„Mehr Geld gibt’s im Show-Biz. Aber auf der Bühne gibt’s mehr Musik.“Mikhail Timoshenko
WEIMAR/PARIS. Die erste Begegnung war einseitig, aber völlig verblüffend – im Kino: In dem französischen Dokumentarfilm „Opéra“, der das Getriebe hinter den Kulissen der Pariser Oper beleuchtet, taucht fast beiläufig ein junger Schlaks zum Vorsingen auf. Sein Auftreten wirkt etwas befangen und unbeholfen, aber so, wie er da Leporellos Register-Arie aus Mozarts „Don Giovanni“interpretiert, wird er vom Fleck weg engagiert.
Ein paar Szenen weiter sieht man den jungen Kerl namens Mikhail Timoshenko in der Gewandmeisterei, der Schneider misst ihm einen Smoking an und will dabei plaudern. Aber Mikhail kann kaum Französisch, macht große Augen und gestikuliert mit Händen und Füßen. Er stamme aus einer Kleinstadt in Russland und habe in einer Kleinstadt in Deutschland studiert, radebrecht er – in Weimar! Dass er nun hier ist, am Ziel aller Träume, kann er nicht fassen.
Schnitt. Ein paar Wochen später, sonntags in Ulrichshalben im Weimarer Land. Auf dem von einem Verein betriebenen „KulturGut“der Familie Roth geben Timoshenko und seine Klavierpartnerin Elitsa Desseva eine Lied-Soirée. Proppenvoll ist der Saal, obwohl ka um jemand die Künstler kennt. Doch das Publikum hat Vertrauen – und wird sofort mit dem ersten Lied, Goethes „Prometheus“in Schuberts Vertonung, frontal erobert. Mit seinem mächtigen, agil geführten, schlanken Bassbariton zeugt dieser Feuerbringer schieres Entzücken.
Wieder macht Mikhail große Augen und hat spätestens bei Hugo Wolfs „Rattenfänger“, den er mit Furor heraufbeschwört, mit diesen eigentlich nicht populären Miniatur-Dramen das Auditorium umgarnt, verzaubert, gebannt. Am Ende wird man ihn und Elitsa erst nach Zugaben entlassen. „Der hat das Herz am rechten Fleck“, verrät zur Pause Thomas Steinhöfel, sein Lehrer. Der Lied-Professor an Weimars Franz-Liszt-Hochschule coacht das Paar, bevor es an zwei wichtigen Wettbewerben in Stuttgart und Dortmund teilnimmt. So eine Stimme, sagt Steinhöfel nüchtern, ist ein Gottesgeschenk, und er kann sich gut erinnern, wie damals, vor sieben Jahren, dieser Jüngling beim Kollegen Michail Lanskoi auftauchte. Solch ein Talent erlebe man vielleicht alle zehn Jahre in Weimar. „Es ist schwer, eine Stimme aufzubauen“, erklärt Steinhöfel. „Aber eine Stimme zu halten, das ist das große Problem.“Bloß nicht zu früh zu große Rollen annehmen: Mit der Verführung zu schnellem Ruhm würden viele Talente verheizt. Doch bei Timoshenko ist er guten Muts.
Drei Tage später – wir haben uns in einem Café in der Klassikerstadt verabredet – tritt Mikhail auf wie ein Student: in Jeans, abgerissenem T-Shirt und Drei-Tage-Bart. Wieder macht er große Augen, Interviews ist er nicht gewohnt. Wir plaudern über Gott und die Welt, über Mephisto und Faust. Nein, das Business interessiert ihn nicht. Er will nur auf die Bühne. Das Musikmachen, eine andere Welt zu erschaffen, um – sei es auch nur für zwei, drei, fünf Minuten – darin ganz zu versinken: Darauf kommt es für ihn an. „Mehr Geld gibt’s im Show-Biz“, erklärt der Mephisto in ihm. „Aber auf der Bühne gibt’s mehr Musik. Wahre Musik“, schwärmt er voll faustischen Eifers.
Bei Kaffee und Latte Macchiato, erzählt der 24-Jährige die unglaubliche Geschichte, wie er in eine Karriere buchstäblich hineingestolpert ist. Fassen kann er es selber nicht. Irgendwann, als er 15 war, haben die Eltern in Mednogorsk, am Südrand des Ural, ihn in die Musikschule geschickt, damit er ein Instrument erlerne. Die Domra – „so etwas wie eine Balalaika“– beherrscht er bis heute nicht. Doch hat ihn seine Lehrerin Tatiana Mayorava für den Gesang entdeckt. Und als sie ihm alles, was sie selbst über Musik weiß, beigebracht hatte, habe sie ihn zu ihrem eigenen, früheren Lehrer geschickt. Und der wiederum kannte Michail Lanskoi in Weimar.
Die Eltern opferten ihre Ersparnisse, damit der Sohn im Ausland studiert. Mikhail weiß noch, wie er in Weimar ankam: mit kleinem Gepäck, großen Augen und keinem Wort Deutsch. „Ich hab’ wirklich mein Leben hier von vorn angefangen.“Mit 17 war er einer der jüngsten Studenten und die Aufnahmeprüfung keine große Hürde. In der Wohngemeinschaft sprachen zwei Kommilitonen Russisch, und so hat er das Deutsche ohne Sprachkurs en passent gelernt.
Nur anfangs hat er die Heimat vermisst. Von Skype, Facebook und SMS hält Timoshenko wenig, er braucht den persönlichen Kontakt im Gespräch. Gerade die ersten Weimarer Wochen will er nicht missen: als „Inspiration, um Lieder über Einsamkeit zu singen“. Mit der Zeit sei ihm die Hochschule zur Familie geworden. „Da habe ich meinen echten Weg angefangen, als Musiker.“Parkspaziergänge, Nachdenken über Musik, das Studium, die Ausbildung im Einzelunterricht. Von Mühe und Plage weiß Mikhail nichts zu erzählen.
Nicht einmal das endlos Repetitive in seinem Beruf stört ihn. „Dasselbe ist niemals das Gleiche“, widerspricht er. Jeder Abend – ob im Kammerkonzert oder auf großer Bühne – ist anders, selbst wenn die Programme sich gleichen. „Ich bin ein bisschen deutsch geworden, zu einem guten Teil“, gesteht er ein. Und ist doch nicht in Weimar geblieben. Wie auch? Nach dem Bachelor-Examen hat ihm sein Agent eine kleine Rundreise zum Vorsingen organisiert. Paris, München, Frankfurt – man fängt ja nicht in der Zweitliga an.
Doch dazu ist es gar nicht gekommen. 7. Januar 2015: „Ich hatte gerade ein Konzert in einer orthodoxen Kirche von Paris gesungen, da ruft Christian Schirm an.“Schirm ist der Directeur artistique an der Akademie der Opéra national de Paris, der Talentschmiede eines der weltführenden Musiktheater. Mikhail kann nicht glauben, dass sie ihn nehmen. Wieder macht er große Augen: „Meine Güte, wie riesig ist dieses Theater.“Wie eine Stadt für sich. Traumwandlerisch beginnt er sein Leben zum dritten Mal ganz von vorn. „Alle berühmten Sänger, die ich nur von YouTube kannte, sitzen plötzlich neben mir in der Kantine.“Und stehen neben ihm auf der Bühne, allerdings ein paar Schritte weiter vorn. Denn der Nachwuchs aus der Akademie wird in Paris behutsam aufgebaut. Seine erste Rolle habe er in einer Kinderoper, „Vol retour“von Joanna Lee, gesungen – „als Ding“, erzählt Mikhail lachend. Dann war er der König der Unterwelt in „Orfeo“, der Pietro in „Simon Boccanegra“, später Ceprano im „Rigoletto“. Eigentlich, gesteht er, sei der tragische Narr in Verdis Oper seine Traumrolle. Doch werde er sie wohl niemals singen. Die Partie liegt für seinen Bassbariton einfach zu hoch.
Vorerst hatte Mikhail nur kleine Auftritte auf großer Bühne. Die Nagelprobe steht ihm dort im nächsten Sommer bevor: als Masetto in „Don Giovanni“, Generalmusikdirektor Armin Jordan übernimmt diese Produktion selbst. Die Freiräume dazwischen füllt Timoshenko mit Liedgesang. Wer solche Minidramen in feinsten Schattierungen und dynamischen Nuancen zu gestalten weiß, profitiert davon auf der Bühne. In Elitsa Desseva als Begleiterin hat Mikhail die ideale Partnerin gefunden.
„Bei ihr fühle ich mich frei“, sagt er. Egal, was er tut und wie er forciert: Sie fängt ihn jederzeit auf. Den Wettbewerben sieht er mit Ernst entgegen, nimmt sie aber nicht zu wichtig. In Bordeaux, Athen und vor ein paar Wochen in Graz hat er einfach gewonnen. „Es ist wie die letzte Kirsche auf einer großen Torte.“
Auf die Torte kommt es ihm mehr an. Mit Elitsa Desseva teilt er die Leidenschaft in der Kammermusik, mit der Pariser Opernfamilie die für die Bühne. Ein Leben, ein Traum: Er muss ein Liebling der Götter sein. Aktuelle Pläne bestehen aus kleineren Auftritten in Paris, einer Hauptrolle bei einer Opern-Uraufführung des Filmkomponisten Alexandre Desplat in Luxemburg und vielleicht einer Lied-Tournee durch Frankreich. Dann kommt schon Masetto im Palais Garnier. – Keine Frage, man wird von ihm hören ...