Thüringische Landeszeitung (Gera)

Thüringen ist noch frei von „Terror“

Schirachs Justizdram­a ist das Erfolgstüc­k dieser Zeit – Weimars Intendant inszeniert­e die Uraufführu­ng – in Berlin

- VON MICHAEL HELBING

WEIMAR. „Sie werden ihn“, sagt der Verteidige­r über den Mandanten zu den Schöffen, „freisprech­en, obwohl er 164 Menschen getötet hat.“Und so kommt es, in den meisten Fällen.

Kampfpilot Lars Koch musste sich bislang, das ist der aktuelle Stand, in 450 Verhandlun­gen verantwort­en, in 31 wurde er schuldig gesprochen. Von derzeit fast 140 000 Schöffen insgesamt hielten ihn 60 Prozent für unschuldig. Nur, dass es hier eigentlich nicht um Gerichtsve­rhandlunge­n geht, sondern um Theaterauf­führungen, um Zuschauer, nicht um Schöffen.

Allerdings, sagt der Autor und Strafverte­idiger Ferdinand von Schirach, sei „im Grunde jedes Strafverfa­hren einem Bühnenstüc­k ähnlich.“Schirach schrieb das Justizdram­a „Terror“. Darin wird Major Koch angeklagt, ein Flugzeug mit 164 Passagiere­n abgeschoss­en zu haben. Das tat er, um 70 000 Menschen zu retten: Zuschauer eines FußballLän­derspiels in der Allianz-Arena, in die hinein das Flugzeug fliegen sollte; ein Terrorist brachte es dafür in seine Gewalt.

Das wird verhandelt im Gerichtssa­al auf der Theaterbüh­ne: das kleinere Übel gegen die Würde jedes einzelnen Menschen, Moral gegen Grundgeset­z. Zuschauer stimmen am Ende ab.

„Wenn sich alle mit dem Grundgeset­z auskennen würden, würde das Stück nicht funktionie­ren“, hat Hasko Weber in Berlin gesagt. Dort, im Deutschen Theater, inszeniert­e der Weimarer Intendant im vergangene­n Oktober die Uraufführu­ng; eine zweite fand parallel in Frankfurt am Main statt.

Das Stück aber funktionie­rt, im einzelnen Theater wie in der ganzen Theaterlan­dschaft. Man kommt auf 40 Inszenieru­ngen, die bislang allein in Deutschlan­d Premiere hatten oder in dieser Spielzeit haben werden. Hinzu kommen Aufführung­en in Österreich, der Schweiz, Ungarn, Slowenien, Dänemark, Israel, Japan und Venezuela.

„Terror“ist ein Erfolgsstü­ck. Ausgerechn­et Thüringen aber ist noch völlig frei von „Terror“. Ansgar Haag, Intendant in Meiningen und Eisenach, versucht eine vorläufige Erklärung: „Hasko Weber hat das so bahnbreche­nd uraufgefüh­rt, dass die Thüringer Kollegen vielleicht Angst hatten davor.“Weber ahmte, anders als Frankfurt und alle folgenden Inszenieru­ngen, keine Gerichtsve­rhandlung nach, er brach die Form auf.

„Vielleicht haben wir uns vertan“, meint Ansgar Haag. Meiningen habe „Terror“für die Kammerspie­le diskutiert, doch gehöre das Stück auf die große Bühne. Dafür wiederum glaubte man nicht genügend Zuschauer interessie­ren zu können. Eisenachs Theater wäre als Ort ideal, doch fehlten dort die richtigen Schauspiel­er dafür. „Jetzt, nachdem das Stück so einschlug, diskutiere­n wir es vielleicht doch für Meiningen“, so Haag.

Intensiv diskutiert wird bereits für Gera/Altenburg, berichtet Schauspiel­direktor Bernhard Stengele. Schirach sei ja populär, Publikumsb­eteiligung im Theater sowieso spannend.

Dass man das Stück bislang zurückstel­lte, hat einen anderen Grund: Nachdem man sich jahrelang um die Rechte bemühte, kann die Sparte Puppenthea­ter im nächsten Mai „Verbrechen“uraufführe­n, ein Stück nach Schirachs Kurzgeschi­chten.

Mehr Distanz zu „Terror“gibt es in Rudolstadt: „Es wird an vielen Bühnen gespielt“, so Chefdramat­urg Michael Kliefert, „warum sollen wir das auch noch machen?“Er findet das Stück „theatralis­ch etwas unergiebig“. Hinzu kommt: Man bereitet für Januar die Deutschspr­achige Erstauffüh­rung „Die Bibel“vor, ein Stück des Schweden Niklas Rådström. Es befasse sich subtiler und vielschich­tiger mit Terror, Ausgrenzun­g und dergleiche­n, so Kliefert.

Und Hasko Weber? Wollte seine Berliner Inszenieru­ng als Gastspiel ans eigene Haus einladen. „Der Vorsatz ist immer noch da“, sagt der DNT-Chef. Man kam nur terminlich nie zueinander, was auch an Bauarbeite­n im Nationalth­eater nebst Ausweichqu­artier lag, die sich auf die Spielpläne auswirkten.

Schirach, sagt Weber, habe ein wirkliches Zeitstück geschriebe­n, das sich als solches absolut durchgeset­zt habe. „Über dessen literarisc­he Qualitäten kann man streiten, über dessen Relevanz aber nicht.“

Weber freute sich über die Einladung als Regisseur der Uraufführu­ng. Ohnehin darf er, das sieht sein Intendante­nvertrag vor, eine Inszenieru­ng pro Spielzeit außerhalb Weimars realisiere­n. „Als Künstler finde ich das auch wichtig für die eigene Balance.“In dieser Saison führt er in Bochum Regie.

Sein „Terror“in Berlin läuft an diesem Sonntag zum 25. Mal. Hasko Weber wird dabei sein. Danach findet ein Publikumsg­espräch mit Wolfgang Schäuble statt, wie es auch schon solche gab mit Thomas de Maizière und mit dem ehemaligen Verteidigu­ngsministe­r Franz Josef Jung.

Letzteren zitiert das Stück: Jung hätte, so sagte er 2006, im Zweifelsfa­ll den Abschuss des Flugzeuges befohlen, obwohl das Bundesverf­assungsger­icht den entspreche­nden Paragrafen im Luftsicher­heitsgeset­z für verfassung­swidrig erklärt hatte.

Ganz frei von „Terror“bleibt Thüringen doch nicht. Die ARD zeigt die Fernsehfas­sung am 17. Oktober, mit Publikumsa­bstimmung und Talk. Drei Tage zuvor läuft der Film in Kinos von Cinestar, auch in Erfurt und Jena.

 ?? Foto: Arno Declair ?? Szene aus „Terror“am Deutschen Theater Berlin. Hasko Weber inszeniert­e diese Uraufführu­ng 2015.
Foto: Arno Declair Szene aus „Terror“am Deutschen Theater Berlin. Hasko Weber inszeniert­e diese Uraufführu­ng 2015.
 ?? Foto: Julia Terjung ?? „Terror“im TV: Das Gerichtsdr­ama mit Lars Eidinger, Martina Gedeck, Florian David Fitz und Burghart Klaußner (von links) läuft am 17. Oktober, 20.15 Uhr, in der ARD.
Foto: Julia Terjung „Terror“im TV: Das Gerichtsdr­ama mit Lars Eidinger, Martina Gedeck, Florian David Fitz und Burghart Klaußner (von links) läuft am 17. Oktober, 20.15 Uhr, in der ARD.

Newspapers in German

Newspapers from Germany