Thüringische Landeszeitung (Gera)
Den Gipfel im Blick: MS-Patientin aus Thüringen will zur Zugspitze wandern
Christina aus Ammern im UnstrutHainichKreis kämpft gegen Vorurteile und um mehr Verständnis und Unterstützung für Leidensgenossen
AMMERN. Strahlendes Lächeln hinter zarten Brillengläsern, das Haar modisch kurz geschnitten, die zierliche Gestalt sportlich-leger gekleidet: Das ist Christina O.* aus Ammern im UnstrutHainich-Kreis. Eine moderne junge Frau, die das Leben liebt. Dass sie an Multipler Sklerose (MS) erkrankt ist, ist ihr nicht anzusehen, zumindest nicht auf den ersten Blick. Denn Christina sitzt weder im Rollstuhl noch läuft sie an Krücken, und an ihren guten Tagen kann sie sich sogar leichtfüßig fortbewegen. Doch es gibt eben nicht nur die guten Tage.
Dass die 33-Jährige an der „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“leidet, stellte sich vor einigen Jahren heraus: „Ich hatte immer angenommen, dass mein Blutdruck zu niedrig ist, der Kreislauf deshalb nicht in Schwung kommt“, blickt die gebürtige Mühlhäuserin auf Schwindelattacken, Müdigkeit und Mattheit zurück. Doch nach verschiedenen Untersuchungen, darunter einem MRT von Schädel und Halswirbelsäule, stand fest, dass sie an Multipler Sklerose leidet. Einer chronischen Erkrankung, die das zentrale Nervensystem angreift und zwar therapierbar, bislang aber nicht heilbar ist.
Für Christina war die Diagnose einerseits eine Erleichterung. Endlich wusste sie, was mit ihr los ist, dass sie sich ihre Beschwerden nicht einbildete. Doch zugleich war die Diagnose ein großer Schock. „Denn über MS wusste ich nichts. Ich wusste nicht, ob ich damit alt werde und was genau auf mich zukommt.“Christina empfand Angst, Wut und Verzweiflung, war niedergeschlagen und traurig. Heute ist sie sich sicher, dass sie die Krankheit letztlich nur annehmen konnte, weil ihre Eltern und ihr Freundeskreis sie immer unterstützt haben. Ihr zuhörten, mit ihr sprachen, ihr Mut machten.
Denn zur Krankheit kam bald der Kampf mit der Bürokratie: Christina musste einen Schwerbehindertenausweis beantragen und schließlich nach 14 Jahren ihren Job als Maschinenführerin im Drei-Schicht-Rhythmus aufgeben, weil die auch körperlich anstrengende Arbeit über ihre Kräfte ging. Sie wurde krankgeschrieben, inzwischen lebt sie von Arbeitslosengeld und sucht eine leichte Tätigkeit. Denn zum Leben mit der Krankheit gehört, sich nicht dauerhaft zu überfordern, eigene Leistungsgrenzen zu erkennen und zu akzeptieren.
Um das Fortschreiten der Erkrankung aufzuhalten und die Schübe zu hemmen, in denen die für die MS typischen Entzündungen auftreten, musste sich Christina anfangs einmal täglich spritzen. Für sie eine große Überwindung. Doch nach anderthalb Jahren schmerzte das Spritzen auf der inzwischen vernarbten Haut derart, dass die Ärzte ihre Behandlung auf Tabletten umstellten. Die natürlich ebenfalls Nebenwirkungen haben. Seit kurzem nimmt Christina, die sich in der Neurologie des Jenaer Universitätsklinikums sehr gut betreut fühlt, an einer Studie für ein neues Medikament teil. Allerdings musste sie vorher ihren Körper entgiften. Eine Belastung auch das, „weil ich Angst hatte, dass sich die Entzündungen in dieser Zeit weiter ausbreiten“. Der Studie wegen hat sie auch ein großes Vorhaben auf das kommende Jahr verschieben müssen: Christina will auf die Zugspitze wandern, Deutschlands höchsten Gipfel. Nicht auf den Inselsberg, nicht auf den Brocken, die knapp 3000 Meter hohe Zugspitze sollte es sein. Nach dem Motto „Ziele setzen, Berge versetzen“will Christina den höchsten Gipfel Deutschlands erklimmen.
Ihr Anliegen ist es, mit dieser Aktion auf ihre Krankheit aufmerksam zu machen, die jeder zu kennen meint, über die aber die wenigsten wirklich etwas wissen. Zugleich will sie dabei Geld für die Deutsche MS-Gesellschaft sammeln, weil Organisationen wie diese Gesellschaft ohne Spendengelder nicht lebensfähig wären. Christina will sich Sponsoren für jeden Kilometer suchen, nach jedem gelaufenen Kilometer ein lustiges Video drehen und auf Instagram posten.
Die 33-Jährige weiß, dass die Gipfelerstürmung ein Kraftakt wird, sie den insgesamt 14 Kilometer langen Aufstieg nur mit der Hilfe eines Bergführers wird bewältigen können. „Ich habe großen Respekt vor der Wanderung. Aber ich will es mir selbst beweisen“, sagt sie. Und sie will es auch Fremden beweisen, die mit Urteilen oft sehr schnell bei der Hand sind. Christina kann davon Geschichten erzählen. Etwa bei der Wohnungssuche: Im Moment lebt sie bei ihren Eltern in Ammern, sie sucht aber nun eine kleine Wohnung in Erfurt. Nichts Außergewöhnliches, aber eine nette, bezahlbare Bleibe am Stadtrand, wo sie nicht zu vielen Geräuschen und Bildern ausgesetzt ist, wo sie Ruhe findet und Natur, um mit ihrem Hund James spazieren gehen zu können.
„Anstatt mich erst einmal kennen zu lernen, wollen die Vermieter sofort wissen, warum ich Arbeitslosengeld bekomme und nicht arbeite.“Das ärgert sie. Wie generell das AbgestempeltSein in unserer Gesellschaft, wenn jemand nicht zu hundert Prozent leistungsfähig ist. Auch deshalb plant Christina die Wanderung auf die Zugspitze.
Dafür übt sie fleißig. Sie war jüngst eine Woche in Bayern, um zu wandern. Und auch mit ihrem geliebtem James – einer Mischung aus Labrador und Jack Russell, „einem richtigen Powerpaket“– unternimmt sie kilometerlange Spaziergänge. Christina will sich von der Krankheit nur so weit einschränken lassen, wie es unumgänglich ist. Ihre Freunde nehmen an ihrem Schicksal Anteil, es steht aber nicht im Mittelpunkt gemeinsamer Unternehmungen. Christina will kein Mitleid, will nicht bedauert werden. Sondern ihr Leben mit MS so gut wie möglich leben. Und sie will auch anderen Schwerkranken helfen. Deshalb wird sie nicht müde, für die Organspende zu werben – und deshalb plant sie neben der Gipfelerstürmung auch einen Spendenlauf für das Kinderhospiz in Tambach-Dietharz.
* der vollständige Name ist der Redaktion bekannt
„Ziele setzen und Berge versetzen“