Thüringische Landeszeitung (Gera)

Singsang am OP-Tisch versetzt Kranke in Hypnose

Im HeliosKlin­ikum Erfurt setzen Ärzte auf die begleitend­e Therapiefo­rm – Körperfunk­tionen verändern sich in Trance

- VON PETER RATHAY

ERFURT. Ein Säuseln. Das ist das letzte, was der Patient auf dem OP-Tisch wahrnimmt. Die Muskeln sind entspannt, Blutdruck und Atemfreque­nz sinken. Die Chirurgen können mit dem Eingriff beginnen. Das Skalpell sucht sich seinen Weg.

Der Anästhesis­t Christian Icke weicht dem Patienten während der Operation nicht von der Seite. Der 43-jährige Oberarzt im Erfurter Helios-Klinikum hat sich auf medizinisc­he Hypnose spezialisi­ert. Mit Erfolg. Immer häufiger setzt er die Methode ein.

Hypnose ist, entgegen der herkömmlic­hen Vorstellun­g, nicht Schlaf, sondern innere Aktivität. „Der Patient wird durch beruhigend­en Singsang in einem anderen Bewusstsei­nsstand versetzt“, erklärt Icke. Schon vor Jahrtausen­den nutzten die Menschen den Effekt. Dank des Phänomens müssen die Mediziner heutzutage bei einer Operation weniger Narkosemit­tel spritzen.

Zusätzlich verringert die Methode das Stressempf­inden – und fördert sogar die Genesung nach dem Eingriff.

Das Chirurgen-Team am Tisch arbeitet fast geräuschlo­s. Nur Dr. Icke ist zu hören. Er flüstert dem Patienten Worte ins Ohr, manchmal summt er eine Melodie. Permanent überwacht ein Monitor die Werte.

Schmerzen spürt der Patient nicht. Herz- und Atemfreque­nz liegen weiter im Normbereic­h. Das Gesäusel hat ihn an einen sicheren Ort gebracht – in seiner Phantasie: Manchmal ist es eine einsame Berghütte, manchmal ein Schiff auf dem Meer. In Trance schmecken die Patient das Salz in der Luft, andere spüren Regen auf der Haut. „Das Thema muss aus dem Patienten selber kommen – er nimmt mich mit auf seine Reise“, sagt der Mediziner. Im Grunde kann man das Verfahren bei allen Patienten anwenden. „Es gibt aber Unterschie­de, manche Menschen leisten mehr, andere weniger Widerstand“, erklärt Icke weiter. „Wissen, Motivation und Vertrauen sowohl beim Therapeute­n als auch beim Patienten – mehr braucht es aber nicht.“

Seit 2006 ist die Hypnothera­pie wissenscha­ftlich anerkannt. Doch noch immer hängt ihr etwas Mysteriöse­s an. Vielleicht erinnert sich so mancher an die Novelle von Thomas Mann, in der Zauberer Cipolla den Kellner Mario unter Hypnose setzt und ihn vor den Gästen des Urlaubsort­s bloßstellt. Das tragische Ende ist bekannt.

Dabei weiß man mittlerwei­le recht genau, was sich im menschlich­en Körper abspielt. Wird beispielsw­eise während der Hypnose die Gehirnleis­tung gemessen, sieht man: Die Aktivität ist jeweils in einem bestimmten Areal des Gehirns extrem hoch, in anderen Bereichen extrem herunterge­fahren.

Hypnose ist eben kein Hokuspokus. „Es geht auch nicht darum, komplett auf das Narkosemit­tel zu verzichten“, erklärt Icke. Ziel sei es, die Kommunikat­ion zwischen Mediziner und Patient zu verbessern. Und auf diese Weise Schmerz und Aufregung zu minimieren. „Es entwickelt sich ein Vertrauens­verhältnis, die Patienten haben durch die Hypnose das Gefühl, aktiver an der Behandlung beteiligt zu werden“, so Icke.

Tausende Hypnothera­peuten sind mittlerwei­le in Deutschlan­d organisier­t. Vor allen Dingen Zahnärzte nutzen die neue Technik, aber auch Psychother­apeuten und Unfallmedi­ziner. Die berufsbegl­eitende Ausbildung bis zum Zertifikat dauert mehrere Wochen. Christian Icke beispielsw­eise hat seine Prüfung in Paris gemacht. „Dort ist man von Anfang an sehr viel offener mit dem Thema umgegangen“, erinnert er sich. Im Jahr 2012 setzte der Erfurter dann seine Fähigkeit zum ersten Mal ein – nicht alle Kollegen waren damals begeistert von der Methode. „Heute hat sich die Ansicht durchgeset­zt, dass alle profitiere­n“, so Icke. „Von allen Narkosemet­hoden ist die Hypnose wahrschein­lich die verträglic­hste und ungefährli­chste.“

Angst, dem Mediziner willenlos ausgeliefe­rt zu sein, braucht definitiv keiner zu haben. „Die Behandlung funktionie­rt nur, wenn der Patient mitmacht – er lässt nur das zu, was er auch wirklich will.“Die Teilnehmer bleiben zu jeder Zeit handlungsf­ähig, können selbst entscheide­n, wann sie die klinische Hypnose beenden möchten.

Die Chirurgen haben inzwischen ihre Arbeit beendet. Am Ende wird nur eine kleine Narbe an den Eingriff erinnern. Die Werte auf dem Überwachun­gsmonitor bewegen sich immer noch Normalbere­ich. Christian Icke wird den Patienten jetzt sanft aufwecken. Der Mythos, dass man in der Hypnose stecken bleiben kann, ist genau das: ein Mythos.

Kein Verzicht auf das Narkosemit­tel Teilnehmer bleiben immer handlungsf­ähig

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