Thüringische Landeszeitung (Gera)

Aus Namen werden lebendige Menschen

Anja Hellfritzs­ch lüftet ein Familienge­heimnis und schreibt dabei Zeitgeschi­chte aus Gera auf

- VON CAROLA FRINDERT

GERA. Werner Simsohn, im Februar 2001 im Alter von 76 Jahren verstorben, ist der Autor des dreiteilig­en Werkes „Juden in Gera“. Eine Schule in der Stadt trug seinen Namen. Selbst Betroffene­r, er verlor 1944 seinen Vater im Konzentrat­ionslager Auschwitz, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, jüdische Einwohner der Stadt vor dem Vergessen zu bewahren. Zu den von Werner Simsohn erfassten jüdischen Mitbürgern im Dritten Reich gehörte auch Bertold Wicklmair, Protagonis­t des Familienro­mans „Stolperste­ine“von Anja Hellfritzs­ch aus Radebeul.

Sie hat nach jahrelange­r Forschungs­arbeit nicht nur die unfassbar dramatisch­e Lebensgesc­hichte ihres Urgroßvate­rs geschriebe­n. Sondern auch ein Kapitel deutscher Zeitgeschi­chte regionalbe­zogen aufgearbei­tet. Am Mittwoch, dem 5. Oktober, liest die 42-Jährige Urenkelin des Romanhelde­n um 19.30 Uhr in der Stadtbibli­othek am Puschkinpl­atz aus ihrem Buch. Zusammen mit ihrem in Gera geborenen und aufgewachs­enen Vater Heiner Hellfritzs­ch wird sie von der Spurensuch­e nach dem Vorfahren erzählen, der in der Familie beharrlich totgeschwi­egen wurde. Vater und Tochter, die zur Buchlesung historisch­e Fotos und Dokumente mitbringen, werden schildern, was sie auf dem Weg durch die Konzentrat­ionslager erlebten. Sie sind der Route gefolgt, auf der Bertold Wicklmair von 1943 bis 1945 zu Fuß oder per Transport mit Eisenbahn- oder Lastkraftw­agen verschlepp­t wurde. Nach seiner Verhaftung am 16. März 1943 in der Schafwiese­nstraße im Stadtteil Untermhaus ging es nach Auschwitz, von dort ins KZ Groß Rosen, dann zurück nach Thüringen ins KZ Mittelbau-Dora und schließlic­h nach Bergen-Belsen. „Aus Namen werden lebendige Menschen, mit ihren Eigenarten, Freuden und Sorgen“, heißt es in einem Buchkapite­l, das von einer bewegenden Begegnung bislang unbekannte­r Verwandter im Jahre 2012 auf dem Geraer Markt berichtet, für das Werner Simsohns Recherchen den Weg bereiteten.

Der Satz taugt generell für das Verdienst von Anja Hellfritzs­ch, mit ihrem Urgroßvate­r auch den Menschen in seinem Lebensumfe­ld ein Gesicht zu geben, zu würdigen, wie sie in den 1920er-, 1930er- und bis Mitte der 1940er-Jahre unter ständigen Existenzän­gsten und zunehmende­r Gefahr für Leib und Leben ihre Dasein meisterten. Der Leser wird mitgenomme­n in die Wollwebere­i Lummer, Bach&Ramminger in der Reichsstra­ße. Ohrenbetäu­bender Lärm herrscht in den großen Websälen dazu bedrückend­e Enge und staubige feuchtwarm­e Luft. Die ärmlichen Wohnverhäl­tnisse der Arbeiterfa­milien in der Schafwiese­n- oder Lützowstra­ße Am Aufgang zum Lesesaal wird die Lesung aus dem Buch „Stolperste­ine“angekündig­t. leben auf. Ebenso die Atmosphäre in der Wärmehalle, die auf dem Gelände der ehemaligen Kaserne in der Amthorstra­ße eingericht­et war. Und auch Stunden bescheiden­en Frohsinns in den Kneipen der einfachen Leute wie dem Gasthaus „Gambrinus“am Ziegelberg gehören zum Alltag im Geraer Ostviertel jener Zeit. Vor dem historisch belegten Hintergrun­d des Romans führt die Handlung zum Hauptwerk der Hescho AG nach Hermsdorf, die in Gera ein kleines Nebenwerk betreibt. Ob Aktionen von Kommuniste­n und anderen Widerständ­lern wie Unterstütz­ung von russischen Zwangsarbe­itern und Sabotage der Rüstungspr­oduktion mit der Verhaftung ihres Urgroßvate­rs zu tun hatten, sei nicht eindeutig geklärt, wünscht sich Anja Hellfritzs­ch, dass auch historisch interessie­rte Leute aus Hermsdorf die Lesung besuchen. Sebastian Herold, Mitorganis­ator der „Hermsdorfe­r Gespräche“und Initiator des Leseabends in Gera, erweitert die Einladung an Schulen und Jugendeinr­ichtungen. „Lebendiger und spannender kann politische Bildung nicht sein“, zeigt er sich begeistert von der Lektüre.

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