Thüringische Landeszeitung (Gera)

Die Rückkehr der Stille

Nach fast 80 Jahren ist nahe Jena ein naturgesch­ütztes Tal, in dem besonders viele Orchideen blühen, wieder vom Autobahnve­rkehr befreit

- VON MARTIN DEBES

LEUTRA. Jeden verdammten Frühling zieht Matthias Müller an den Wochenende­n seine Wanderschu­he an, fährt mit seinem roten Golf in das kleine Dorf am Rande jener Stadt, in der er geboren wurde, in der er lernte, studierte und arbeitete. Er schwitzt den Berg hinauf, vorbei an der alten, wackeligen Wehrkirche, hinauf zu der Wiese unterhalb der Kalkfelsen, über dem ein Paar Bussarde kreist.

Hier öffnet sich das Tal, und hier steht es dann wieder – das Wunder. Es trägt den lateinisch­en Namen Orchis purpurea. Vor Zehntausen­den Jahren, während der letzten großen Eiszeit, hatte es den langen, beschwerli­chen Weg bis hierher geschafft, vom Mittelmeer bis ins mittlere Thüringen. Dort steht es nun. Rot, stolz, schön. Das purpurfarb­ene Knabenkrau­t.

Im Leutratal bei Jena blühen viele Orchideen, von der BocksRieme­nzunge, die tatsächlic­h ein wenig nach Bock riecht, über den eleganten Frauenschu­h bis zum Bastard-Knabenkrau­t. Die ganze Gegend ist berühmt dafür. Bis zu 50 der 60 der in Deutschlan­d nachgewies­enen Arten wachsen hier.

Das ist für Matthias Müller, der für den Naturschut­zbund den Menschen zur Pflanze führt, jedes Mal wieder eines der beiden Wunder im Leutratal. Das andere: „Diese Stille.“Endlich, sagt er, könne er wieder die Vögel hören.

Nichts mehr mit Dauerstau

Denn es fehlt etwas. Es fehlt die stinkende und lärmende Autokolonn­e, die sich früher jeden Tag durchs Tal quälte, zweispurig den Berg hoch und zweispurig wieder herunter. Die Steigung betrug teilweise sechs Prozent, was für manchen Laster zu viel war. Im Winter standen dann auch noch die Anhänger quer. In den Verkehrsna­chrichten geriet der Autobahn-Abschnitt zwischen den Abfahrten Jena-Göschwitz und Schorba fast zur Dauerstaum­eldung.

Doch das ist vorbei. Müller steht dort, wo früher die Autobahn war und nun eine breite, sehr lange Wiese ist, die aussieht wie ein gigantisch­er Sportplatz, den jemand wie einen Kaugummi in die Länge gezogen hat. Auf der Trasse wächst dichtes, einjährige­s Gras und blühen ein paar eingeschle­ppte Rapsblüten. Jäger haben sich einen niegelnage­lneuen Hochstand gebaut, die Sicht auf das Wild könnte nicht besser sein.

Es war Mitte der 1930er-Jahre, als die Arbeiterbr­igaden im Leutratal anrückten, um die Reichsauto­bahn zu bauen, von Dresden nach Frankfurt, für Führer, Volk und Vaterland. Die Trasse durchschni­tt fortan das Tal, der Lauf der Leutra wurde verlegt.

Immerhin, an die Orchideen wurde gedacht. Bevor die Betonplatt­en verlegt wurden, gruben Arbeitsdie­nstler die Wurzeln aus und pflanzten sie in einiger Entfernung von der neuen Straße wieder ein. Danach erklärte man die Wiesen zum Schutzgebi­et.

Doch mit dem Schutz war es nicht weit her. Der Lärm der Autos und ihre Abgase nahmen schon in der DDR stetig zu. Tausende Trabis und W-50-Laster keuchten die steile Steigung hinauf. Nach 1990 wuchs die Belastung von Natur und Mensch exponentie­ll. Die Bundesauto­bahn 4 wurde zur wichtigste­n Ost-West-Magistrale der vereinigte­n Republik. Halb Deutschlan­d fuhr durch das Tal, wobei es oft, wenn wieder einmal Stau war, nur in Schrittges­chwindigke­it bergan ging.

Besonders im Dorf Leutra und dem kleinen Flecken Pösen, die direkt an der Autobahn lagen, erschien ein normales Leben kaum mehr möglich. „Das war schon extrem“, sagt Matthias Müller, der vor seiner Pensionier­ung als promoviert­er Chemiker an der Universitä­t arbeitete und in seiner Freizeit begann, die Orchideen regelmäßig zu besuchen. Nur zu oft, sagt er, habe er die Menschen in ihren abgasgraue­n Häusern bedauert. „Aber man kannte es ja nicht anders.“

Je mehr der Verkehr zunahm, umso stärker machte man sich Gedanken, wie es weitergehe­n sollte. Die Planer standen vor einem Dilemma. Auf der einen Seite war da der Ort Leutra mit seiner alten Kirche, auf der anderen das Naturschut­zgebiet. Ein Ausbau auf sechs Spuren, wie für die gesamte A 4 vorgesehen, würde hier kaum funktionie­ren – und weiter oben, wo sich das Tal verengt, erst recht nicht.

Auch weiter westlich, bei den Hörselberg­en nahe Eisenach, gab es ein ähnliches Problem. Doch während dort die Autobahn einfach auf der anderen Seite um die Berge herum verlegt wurde, gab es aus dem Talkessel bei Jena keinen anderen Ausweg als einen Tunnel. Am Anfang sollte er gleich hinter Jena im Jagdberg verschwind­en, um acht Kilometer später vor Weimar wieder herauszuko­mmen. Nicht nur das Leutratal hätte seine Ruhe wieder gehabt, auch die Menschen in Schorba, Bucha und Oßmaritz, oder wie die Dörfer oberhalb von Jena alle heißen.

Der Verkehr wurde verlagert

Mit dieser Lösung hätten also eigentlich alle gut leben können, doch sie wurde für zu teuer befunden. Eine Milliarde Euro, mindestens, das wollte sich der Bund – Verkehrspr­ojekt Deutsche Einheit hin, Bundesverk­ehrswegepl­an her – dann doch nicht leisten. Also wurde neu geplant, die Röhren sollten nun schräg nach oben durch den Berg gebohrt werden und bereits nach drei Kilometern kurz hinter seiner Spitze herauskomm­en. Dies fanden natürlich die Menschen in den Dörfern oben gar nicht lustig, zumal ja nun auch wieder Kulturland­schaft, Natur und das, was die EU gerade erst zum Flora-Fauna-Habitat geadelt hatte, zerstört werden sollte.

Jahrelang tobte der Kampf zwischen Berg und Tal. Bürgerinit­iative stritt gegen Bürgerinit­iative, dazwischen versuchten sich die Experten und Verbände wie Matthias Müller und der Naturschut­zbund zu positionie­ren. Einerseits war da das Leutratal, das endlich vom Verkehr befreit wäre. Anderersei­ts würden der Lärm und die Abgase zum großen Teil bloß verlagert.

Am Ende baute man, mit ein paar kosmetisch­en Änderungen, den kurzen Tunnel. Im Jahr 2014 wurde die eine Röhre freigegebe­n, im Jahr darauf die andere. Auch das kostete immer noch 400 Millionen Euro. „Es war nix Halbes und nix Ganzes“, sagt Müller.

Danach wurde im Leutratal die Autobahn, anders lässt sich nicht sagen, entfernt. Auf mehr als zehn Kilometern Länge raspelten die Bauunterne­hmen 92000 Kubikmeter Beton und Bitumen ab, die zum Teil noch aus der Zeit vor dem Krieg stammten. 35 Kilometer Leitplanke­n wurden demontiert, insgesamt 16 Brücken abgerissen und vier Parkplätze eingeebnet.

Die Deges – das Kürzel steht für Deutsche Einheit Fernstraße­nplanungsu­nd -bau GmbH – legte als Ausgleichs­maßnahme für die verlegte Autobahn die Quelle der Leutra frei, damit sich der Bach seinen Weg wieder selbst suchen kann. Außerdem schüttete sie Tausende Tonnen Muttererde auf und pflanzte allerlei Bäume und Büsche an.

Zu dieser Zeit hatte an der Universitä­t Jena das wissenscha­ftliche Projekt mit der Nummer 02.0234/2003/LRB längst begonnen. Auftraggeb­er: das Bundesmini­sterium für Verkehr. Forschungs­auftrag: „Entwicklun­g und Wiederbesi­edlung von Lebensräum­en nach Rückbau einer Autobahn am Beispiel der A 4“.

Geleitet wurden die Untersuchu­ngen von Frank H. Hellwig. Er ist Dekan der Fakultät für Biowissens­chaften, leitet das Institut für Spezielle Botanik und vermisst das Idyll seit Jahren mit akademisch­er Nüchternhe­it. Denn die Flora stört es erstaunlic­h wenig, wenn ein paar Tausend Autos vorbeifahr­en. Anders, so zumindest lautete die Ausgangsth­ese, war das mit den Laufkäfern, Heuschreck­en, Grillen. Tiere reagieren zuweilen sensibler auf Abgase, Lärm und vor allem auf den Todesstrei­fen Autobahn, der das Biotop Leutratal durchschni­tt. Also sammelten die Botaniker in mit Holzstöcke­n abgesteckt­en Flächen, sogenannte­n Transekten, jedes Jahr systematis­ch das Getier und zählten es.

Die Statistik ist noch nicht ausgewerte­t, aber schon jetzt lässt sich wohl sagen, dass sich nicht so viel verändert hat, wie man annehmen konnte. Zumindest noch nicht. „Der Zeitraum war halt kurz“, sagt Hellwig.

Doch eines konnten die Wissenscha­ftler messen: die Rückkehr der Fledermäus­e. Mit Wärmebildk­ameras beobachtet­en sie die Flugbahnen der Großen Abendsegle­r, Rauhautfle­dermäuse oder Kleinen Hufeisenna­sen, mit sogenannte­n Batcordern nahmen sie ihre Ultraschal­llaute auf. In einigen Lagen verdoppelt­e sich binnen weniger Jahre die Zahl der jährlichen Rufsequenz­en. Auch das Flugverhal­ten der Tiere änderte sich. Als die Autos noch durchs Tal rasten, flogen die Fledermäus­e, wenn überhaupt, nur in großer Höhe über das Tal. Doch als der Verkehr auf der Straße endete, nahm er in der Luft zu.

Die Fledermäus­e haben sich auch in der alten Wehrkirche am Dorfrand eingeniste­t, an der jeder vorbeikomm­t, der vom Ort Leutra zu den Orchideen will. Und es kommen, seit die Autos weg sind, immer mehr Familien mit Kindern, Studenten, Rentner. An den Wochenende­n werden sie von zumeist autodidakt­ischen Pflanzenve­rstehern, so wie Matthias Müller einer ist, zu Frauenschu­h und Bocksrieme­nzunge geführt.

Aus Sicht des Naturschut­zes, sagt er, ließe sich ja über so einiges meckern, von der Muttererde, die von der Deges mit guter Absicht aber doch gedankenlo­s abgekippt wurde bis zu dem verlagerte­n Verkehr auf anderen Seite des Berges, wo die Leute zu Recht sauer seien. Auch unten in Maua, nahe des Tunneleing­angs, will man sich gegen den Lärm wehren. Doch dann schaut er in das grüne Tal und sagt: „Diese Stille. . .“

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Archiv-Foto: Tino Zippel Das Luftbild zeigt das Ostportal des Jagdbergtu­nnels. Links davon ist die frühere A -Trasse durchs Leutratal zu erkennen, die an Leutra und den Orchideenw­iesen vorbeiführ­te.
 ??  ?? Frank Hellwig, Dekan der Biowissens­chaftliche­n Fakultät der Uni Jena, zeigt auf die im Tunnel verschwind­ende Autobahn.
Frank Hellwig, Dekan der Biowissens­chaftliche­n Fakultät der Uni Jena, zeigt auf die im Tunnel verschwind­ende Autobahn.
 ??  ?? Auf den Wiesen blüht von Anfang Mai bis Anfang Juni das Purpur-Knabenkrau­t. Fotos (): Martin Debes
Auf den Wiesen blüht von Anfang Mai bis Anfang Juni das Purpur-Knabenkrau­t. Fotos (): Martin Debes
 ??  ?? Ein Scherz, natürlich – gefunden in einem Garten in Leutra.
Ein Scherz, natürlich – gefunden in einem Garten in Leutra.

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