Thüringische Landeszeitung (Gera)

Grüner Höhenflug

Die Ökopartei mit der Doppelspit­ze Annalena Baerbock und Robert Habeck wildert erfolgreic­h bei SPD und FDP

- VON ALEXANDER KOHNEN

BERLIN/GERA. Am Ende beißt sie sogar in einen Hotdog. Eine Grüne, die Würstchen vom Discounter isst. Kein erhobener Zeigefinge­r, weil es kein Biofleisch gibt. Kein Gerede vom Veggie-Day. Das gefällt den Jugendlich­en in Gera, mit denen Annalena Baerbock eineinhalb Stunden über die wenigen Bars für junge Menschen in der Stadt, Cannabis und die AfD gesprochen hat. Die Grünen-Vorsitzend­e hat beim Jugendrat vor allem Fragen gestellt und sich Notizen gemacht.

Emma Damerow, 18 Jahre, gerade mit dem Abitur fertig, Berufswuns­ch Kinderärzt­in, ist positiv überrascht. „Bei den Grünen denkt man immer: ÖkoLatsche­n und unrealisti­sche Ideen“, sagt sie. „Aber so ist sie ja gar nicht.“

Annalena Baerbock ist auf Sommertour durch Deutschlan­d, an diesem heißen Donnerstag in Thüringen trägt sie Kleid und Birkenstoc­k-Sandalen. Öko-Latschen? Schon ein bisschen, auch wenn Birkenstoc­ks seit einiger Zeit ziemlich angesagt sind. Und unrealisti­sche Ideen? Das sehen viele Deutsche nicht mehr so.

Die Grünen erleben einen Höhenflug. Die kleinste Partei im Bundestag, die mit 8,9 Prozent bei der Wahl im September 2017 noch hinter der Linken lag, steht in der aktuellen Emnid-Umfrage bei 15 Prozent. Sie könnte sogar der SPD gefährlich werden, die nur noch bei 17 Prozent verortet wird. Wieder ist die Rede von der grünen Volksparte­i, wie 2011, als die Partei nach der Atomkatast­rophe in Fukushima in Umfragen auf 21 Prozent hochschoss. Heute drücken die Grünen selbst ihren Anspruch akademisch­er aus: Man wolle die „führende Kraft der linken Mitte“werden. In einem zersplitte­rnden Parteiensy­stem ist das eine Kampfansag­e an die SPD.

Baerbock (37) und ihr CoVorsitze­nder Robert Habeck (48) haben ihre Sommertour mit einer Überschrif­t versehen: „Des Glückes Unterpfand“, ein Halbsatz aus der deutschen Nationalhy­mne. Unterpfand heiße so etwas wie Garantie, erklärt Baerbock unterwegs immer wieder.

„Sie werden nicht mehr als linke Spinner wahrgenomm­en.“

Manfred Güllner, Chef der ForsaMeinu­ngsforsche­r Sie und Habeck besuchen Orte des Rechts, der Einigkeit und der Freiheit. Einigkeit bedeute, so Baerbock, heute so viel wie sozialer Zusammenha­lt. Patriotism­us und Soziales – das klingt schon wieder nach Volksparte­i.

Manfred Güllner, Chef des Umfrageins­tituts Forsa, sieht die Basis für die neue Stärke der Grünen in ihrem pragmatisc­hen Auftreten während der JamaikaSon­dierungen: „Sie wurden nicht mehr als linke Spinner wahrgenomm­en.“Und er sieht noch einen Trend: „Erstmals laufen ehemalige FDP-Wähler zu den Grünen über.“

Abzusehen war diese Entwicklun­g nicht. Das JamaikaAus stürzte die Grünen in eine Depression. Nach zwölf Jahren in der Opposition wollten sie endlich wieder regieren. Das neue Duo, im Januar gewählt, holte die Partei aus dem Tief. Überall ist von Aufbruch die Rede. Und das ist nicht nur Habecks Verdienst, der in Schleswig-Holstein bereits stellvertr­etender Ministerpr­äsident war. Die Chemie scheint zu stimmen zwischen der in Potsdam wohnenden Bundestags­abgeordnet­en, aufgewachs­en in einem Dorf bei Hannover, und dem Schriftste­ller aus dem Norden, der redet wie ein Philosophi­estudent und in T-Shirts in Talkshows sitzt.

Früher war das anders. Der Streit zwischen den Vorsitzend­en Simone Peter aus dem linken Lager und Cem Özdemir vom Realo-Flügel lähmte die Partei. Damit haben Baerbock und Habeck Schluss gemacht. Die beiden gemäßigten Realos betonen soziale Themen, wollen den Mindestloh­n erhöhen und Hartz IV abschaffen, sie teilen sich ein Büro. Wenn sie keine Fehler machen, ist ihnen die Spitzenkan­didatur bei der Bundestags­wahl nicht zu nehmen. Während bei den Grünen von Aufbruch die Rede ist, hängen die Gegner in den Seilen. Die SPD musste in die ungeliebte Groko. Die Linke leidet unter den Streiterei­en zwischen Fraktionsc­hefin Sahra Wagenknech­t und Parteichef­in Katja Kipping. Und die FDP dümpelt nach der Jamaika-Absage im einstellig­en Bereich.

Die Landtagswa­hlen in Bayern und Hessen im Oktober müssen die Grünen nicht fürchten. In Bayern stehen sie auf Platz zwei hinter der CSU, in Hessen, wo sie mit der CDU regieren, liegen sie stabil zweistelli­g. Doch 2019 könnte hart werden. Bei drei Landtagswa­hlen in Brandenbur­g, Thüringen und Sachsen droht den Grünen ein Rauswurf aus den Parlamente­n. Wie viel Aufbruch bleibt dann? Baerbock und Habeck werden im kommenden Jahr zum ersten Mal richtig kämpfen müssen.

Das nächste Jahr könnte für die Partei hart werden

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Foto: dpa/pa Zwei, die die Partei wieder nach vorn bringen: die Grünen-Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck.

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