Thüringische Landeszeitung (Gera)
Grüner Höhenflug
Die Ökopartei mit der Doppelspitze Annalena Baerbock und Robert Habeck wildert erfolgreich bei SPD und FDP
BERLIN/GERA. Am Ende beißt sie sogar in einen Hotdog. Eine Grüne, die Würstchen vom Discounter isst. Kein erhobener Zeigefinger, weil es kein Biofleisch gibt. Kein Gerede vom Veggie-Day. Das gefällt den Jugendlichen in Gera, mit denen Annalena Baerbock eineinhalb Stunden über die wenigen Bars für junge Menschen in der Stadt, Cannabis und die AfD gesprochen hat. Die Grünen-Vorsitzende hat beim Jugendrat vor allem Fragen gestellt und sich Notizen gemacht.
Emma Damerow, 18 Jahre, gerade mit dem Abitur fertig, Berufswunsch Kinderärztin, ist positiv überrascht. „Bei den Grünen denkt man immer: ÖkoLatschen und unrealistische Ideen“, sagt sie. „Aber so ist sie ja gar nicht.“
Annalena Baerbock ist auf Sommertour durch Deutschland, an diesem heißen Donnerstag in Thüringen trägt sie Kleid und Birkenstock-Sandalen. Öko-Latschen? Schon ein bisschen, auch wenn Birkenstocks seit einiger Zeit ziemlich angesagt sind. Und unrealistische Ideen? Das sehen viele Deutsche nicht mehr so.
Die Grünen erleben einen Höhenflug. Die kleinste Partei im Bundestag, die mit 8,9 Prozent bei der Wahl im September 2017 noch hinter der Linken lag, steht in der aktuellen Emnid-Umfrage bei 15 Prozent. Sie könnte sogar der SPD gefährlich werden, die nur noch bei 17 Prozent verortet wird. Wieder ist die Rede von der grünen Volkspartei, wie 2011, als die Partei nach der Atomkatastrophe in Fukushima in Umfragen auf 21 Prozent hochschoss. Heute drücken die Grünen selbst ihren Anspruch akademischer aus: Man wolle die „führende Kraft der linken Mitte“werden. In einem zersplitternden Parteiensystem ist das eine Kampfansage an die SPD.
Baerbock (37) und ihr CoVorsitzender Robert Habeck (48) haben ihre Sommertour mit einer Überschrift versehen: „Des Glückes Unterpfand“, ein Halbsatz aus der deutschen Nationalhymne. Unterpfand heiße so etwas wie Garantie, erklärt Baerbock unterwegs immer wieder.
„Sie werden nicht mehr als linke Spinner wahrgenommen.“
Manfred Güllner, Chef der ForsaMeinungsforscher Sie und Habeck besuchen Orte des Rechts, der Einigkeit und der Freiheit. Einigkeit bedeute, so Baerbock, heute so viel wie sozialer Zusammenhalt. Patriotismus und Soziales – das klingt schon wieder nach Volkspartei.
Manfred Güllner, Chef des Umfrageinstituts Forsa, sieht die Basis für die neue Stärke der Grünen in ihrem pragmatischen Auftreten während der JamaikaSondierungen: „Sie wurden nicht mehr als linke Spinner wahrgenommen.“Und er sieht noch einen Trend: „Erstmals laufen ehemalige FDP-Wähler zu den Grünen über.“
Abzusehen war diese Entwicklung nicht. Das JamaikaAus stürzte die Grünen in eine Depression. Nach zwölf Jahren in der Opposition wollten sie endlich wieder regieren. Das neue Duo, im Januar gewählt, holte die Partei aus dem Tief. Überall ist von Aufbruch die Rede. Und das ist nicht nur Habecks Verdienst, der in Schleswig-Holstein bereits stellvertretender Ministerpräsident war. Die Chemie scheint zu stimmen zwischen der in Potsdam wohnenden Bundestagsabgeordneten, aufgewachsen in einem Dorf bei Hannover, und dem Schriftsteller aus dem Norden, der redet wie ein Philosophiestudent und in T-Shirts in Talkshows sitzt.
Früher war das anders. Der Streit zwischen den Vorsitzenden Simone Peter aus dem linken Lager und Cem Özdemir vom Realo-Flügel lähmte die Partei. Damit haben Baerbock und Habeck Schluss gemacht. Die beiden gemäßigten Realos betonen soziale Themen, wollen den Mindestlohn erhöhen und Hartz IV abschaffen, sie teilen sich ein Büro. Wenn sie keine Fehler machen, ist ihnen die Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl nicht zu nehmen. Während bei den Grünen von Aufbruch die Rede ist, hängen die Gegner in den Seilen. Die SPD musste in die ungeliebte Groko. Die Linke leidet unter den Streitereien zwischen Fraktionschefin Sahra Wagenknecht und Parteichefin Katja Kipping. Und die FDP dümpelt nach der Jamaika-Absage im einstelligen Bereich.
Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Oktober müssen die Grünen nicht fürchten. In Bayern stehen sie auf Platz zwei hinter der CSU, in Hessen, wo sie mit der CDU regieren, liegen sie stabil zweistellig. Doch 2019 könnte hart werden. Bei drei Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen droht den Grünen ein Rauswurf aus den Parlamenten. Wie viel Aufbruch bleibt dann? Baerbock und Habeck werden im kommenden Jahr zum ersten Mal richtig kämpfen müssen.
Das nächste Jahr könnte für die Partei hart werden