Thüringische Landeszeitung (Gera)

Der türkische Patient

Die Lira verliert weiter an Wert. Der Verfall wird auch für die Europäisch­e Union zur Gefahr

- VON MICHAEL BACKFISCH UND ELENA BORODA

BERLIN. Die türkische Lira fällt und fällt. Das ist nicht nur ein zunehmende­s Problem für das Land, sondern auch für Banken und Unternehme­n in Europa und Deutschlan­d. Welche konkreten Auswirkung­en hat die türkische Ansteckung­sgefahr auf die Wirtschaft und Sicherheit in Europa? Die wichtigste­n Fragen und Antworten.

Wie dramatisch ist der Fall der türkischen Lira?

Seit Beginn des Jahres hat die türkische Lira mehr als 40 Prozent ihres Werts verloren. Wegen der Talfahrt der Währung muss die Türkei für Anleihen immer höhere Zinsen an Investoren bezahlen. Für eine am Montag herausgege­bene 419 Millionen Lira (umgerechne­t rund 55 Millionen Euro) schwere Staatsanle­ihe setzte das Finanzmini­sterium in Ankara eine Rendite von 24,89 Prozent fest. Eine Anleihe aus dem Juli rentierte bei 20,3 Prozent. Im März lag die Rendite noch bei weniger als 14 Prozent. Die Istanbuler Börse hat am Montag unter dem Druck des Lira-Verfalls weiter nachgegebe­n. Bis zum Mittag sackte der Leitindex ISE 100 um nahezu vier Prozent ab.

Was sind die Ursachen hierfür?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte den Betrieben seines Landes jahrelang milliarden­schwere öffentlich­e Aufträge verschafft. Die Wirtschaft lief auf Hochtouren. 2017 betrug das Wachstum 7,4 Prozent. Infolge der überhitzte­n Konjunktur stieg die Inflations­rate auf rund 16 Prozent. Normalerwe­ise müsste die Zentralban­k die Leitzinsen anheben, um die Inflation zu dämpfen. Doch Erdogan hält Zinssteige­rungen für Teufelszeu­g. Gleichzeit­ig schichten Investoren weltweit ihr Geld um: Es wird von Schwellenl­ändern wie der Türkei abgezogen und in harten Währungen angelegt, vor allem in Dollar.

Wie hoch ist die Ansteckung­sgefahr für Europa und Deutschlan­d?

Nach Angaben der Bank für Internatio­nalen Zahlungsau­sgleich steht die Türkei mit 223 Milliarden Dollar bei ausländisc­hen Geldgebern in der Kreide, vor allem aus Südeuropa. Deutsche Banken machten zwar laut Bundesbank nur rund 21 Milliarden Euro für die Türkei locker. Sollten jedoch südeuropäi­sche Häuser ins Schlingern geraten, wären auch deutsche Banken betroffen – sie haben sich in Südeuropa stark engagiert. Doch nicht nur Banken, auch Unternehme­n sind von der türkischen Finanzkris­e betroffen. Viele türkische Firmen nahmen Kredite in harter Währung – Dollar oder Euro – auf. Da die Lira im Vergleich zu Euro und Dollar immer weiter fällt, müssen sie immer tiefer in die Tasche greifen, um die Schulden zu begleichen. Die deutsche Export-Industrie leidet ebenfalls unter der Talfahrt der Lira. Wenn die türkische Währung billiger wird, wird der Euro entspreche­nd höher bewertet. Ein höherer Euro verteuert aber die Ausfuhren in die Türkei. 2017 gingen deutschen Exporte für rund 22 Milliarden Euro dorthin: Damit steht die Türkei auf Rang 16 aller deutschen Ausfuhrpar­tner.

Wird nun verstärkt mit der türkischen Lira spekuliert?

Die Nachfrage, auch von Verbrauche­rn, nach der türkischen Lira hat sich stark abgeschwäc­ht. Die Commerzban­k geht davon aus, dass wegen der starken Kursschwan­kungen auch weniger spekuliert wird, und rechnet mit einem weiterhin zurückhalt­enden Markt. Grund sind die Unsicherhe­it der Anleger und fehlendes Vertrauen in die türkische Zentralban­k.

Selbst wenn die Türkei nun Fremdwähru­ngsaktivit­äten beschränkt, reicht diese Maßnahme nicht aus, um die Lira zu stabilisie­ren.

Gefährdet Erdogans Hinwendung nach Osten die Sicherheit Europas?

Die türkischen Streitkräf­te sind seit 1952 Mitglied der Nato. Das Land hält nach den USA die zweitgrößt­e Anzahl an aktiven Soldaten in der Allianz. Im Kalten Krieg war die Türkei für Amerika ein wichtiger Allianzpar­tner in der Auseinande­rsetzung mit der Sowjetunio­n. Zudem galt Ankara als stabilisie­rendes Element im politisch unruhigen Nahen Osten. Doch gegenwärti­g befinden sich die Beziehunge­n zwischen der Türkei und den Vereinigte­m Staaten auf einem neuen Tiefpunkt. Hintergrun­d ist der Streit um den in der Türkei unter Terrorvorw­ürfen festgehalt­ene USPastor Andrew Brunson. Umgekehrt forderte Erdogan vergeblich die Auslieferu­ng des im US-Exil lebenden islamische­n Predigers Fethullah Gülen, den er für den Putschvers­uch im Juli 2016 verantwort­lich macht. Der türkische Präsident drohte bereits unverhohle­n damit, sich „nach neuen Freunden und Verbündete­n umzuschaue­n“. Im Syrienkonf­likt arbeitet die Türkei bereits eng mit Russland und dem Iran zusammen. Die zunehmende Hinwendung der Türkei nach Osten stellt das Bündnis vor eine schwere Belastungs­probe.

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Karikatur: Nel

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