Thüringische Landeszeitung (Gera)
Der türkische Patient
Die Lira verliert weiter an Wert. Der Verfall wird auch für die Europäische Union zur Gefahr
BERLIN. Die türkische Lira fällt und fällt. Das ist nicht nur ein zunehmendes Problem für das Land, sondern auch für Banken und Unternehmen in Europa und Deutschland. Welche konkreten Auswirkungen hat die türkische Ansteckungsgefahr auf die Wirtschaft und Sicherheit in Europa? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie dramatisch ist der Fall der türkischen Lira?
Seit Beginn des Jahres hat die türkische Lira mehr als 40 Prozent ihres Werts verloren. Wegen der Talfahrt der Währung muss die Türkei für Anleihen immer höhere Zinsen an Investoren bezahlen. Für eine am Montag herausgegebene 419 Millionen Lira (umgerechnet rund 55 Millionen Euro) schwere Staatsanleihe setzte das Finanzministerium in Ankara eine Rendite von 24,89 Prozent fest. Eine Anleihe aus dem Juli rentierte bei 20,3 Prozent. Im März lag die Rendite noch bei weniger als 14 Prozent. Die Istanbuler Börse hat am Montag unter dem Druck des Lira-Verfalls weiter nachgegeben. Bis zum Mittag sackte der Leitindex ISE 100 um nahezu vier Prozent ab.
Was sind die Ursachen hierfür?
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte den Betrieben seines Landes jahrelang milliardenschwere öffentliche Aufträge verschafft. Die Wirtschaft lief auf Hochtouren. 2017 betrug das Wachstum 7,4 Prozent. Infolge der überhitzten Konjunktur stieg die Inflationsrate auf rund 16 Prozent. Normalerweise müsste die Zentralbank die Leitzinsen anheben, um die Inflation zu dämpfen. Doch Erdogan hält Zinssteigerungen für Teufelszeug. Gleichzeitig schichten Investoren weltweit ihr Geld um: Es wird von Schwellenländern wie der Türkei abgezogen und in harten Währungen angelegt, vor allem in Dollar.
Wie hoch ist die Ansteckungsgefahr für Europa und Deutschland?
Nach Angaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich steht die Türkei mit 223 Milliarden Dollar bei ausländischen Geldgebern in der Kreide, vor allem aus Südeuropa. Deutsche Banken machten zwar laut Bundesbank nur rund 21 Milliarden Euro für die Türkei locker. Sollten jedoch südeuropäische Häuser ins Schlingern geraten, wären auch deutsche Banken betroffen – sie haben sich in Südeuropa stark engagiert. Doch nicht nur Banken, auch Unternehmen sind von der türkischen Finanzkrise betroffen. Viele türkische Firmen nahmen Kredite in harter Währung – Dollar oder Euro – auf. Da die Lira im Vergleich zu Euro und Dollar immer weiter fällt, müssen sie immer tiefer in die Tasche greifen, um die Schulden zu begleichen. Die deutsche Export-Industrie leidet ebenfalls unter der Talfahrt der Lira. Wenn die türkische Währung billiger wird, wird der Euro entsprechend höher bewertet. Ein höherer Euro verteuert aber die Ausfuhren in die Türkei. 2017 gingen deutschen Exporte für rund 22 Milliarden Euro dorthin: Damit steht die Türkei auf Rang 16 aller deutschen Ausfuhrpartner.
Wird nun verstärkt mit der türkischen Lira spekuliert?
Die Nachfrage, auch von Verbrauchern, nach der türkischen Lira hat sich stark abgeschwächt. Die Commerzbank geht davon aus, dass wegen der starken Kursschwankungen auch weniger spekuliert wird, und rechnet mit einem weiterhin zurückhaltenden Markt. Grund sind die Unsicherheit der Anleger und fehlendes Vertrauen in die türkische Zentralbank.
Selbst wenn die Türkei nun Fremdwährungsaktivitäten beschränkt, reicht diese Maßnahme nicht aus, um die Lira zu stabilisieren.
Gefährdet Erdogans Hinwendung nach Osten die Sicherheit Europas?
Die türkischen Streitkräfte sind seit 1952 Mitglied der Nato. Das Land hält nach den USA die zweitgrößte Anzahl an aktiven Soldaten in der Allianz. Im Kalten Krieg war die Türkei für Amerika ein wichtiger Allianzpartner in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion. Zudem galt Ankara als stabilisierendes Element im politisch unruhigen Nahen Osten. Doch gegenwärtig befinden sich die Beziehungen zwischen der Türkei und den Vereinigtem Staaten auf einem neuen Tiefpunkt. Hintergrund ist der Streit um den in der Türkei unter Terrorvorwürfen festgehaltene USPastor Andrew Brunson. Umgekehrt forderte Erdogan vergeblich die Auslieferung des im US-Exil lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen, den er für den Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich macht. Der türkische Präsident drohte bereits unverhohlen damit, sich „nach neuen Freunden und Verbündeten umzuschauen“. Im Syrienkonflikt arbeitet die Türkei bereits eng mit Russland und dem Iran zusammen. Die zunehmende Hinwendung der Türkei nach Osten stellt das Bündnis vor eine schwere Belastungsprobe.