Thüringische Landeszeitung (Gera)

Die frühe Pubertät

Kinder werden heute früher erwachsen als noch vor 100 Jahren – zumindest körperlich. Ursache könnte auch die moderne Lebensweis­e sein

- VON ELENA METZ UND LAURA RÉTHY

BERLIN. Seit vielen Jahren kommen besorgte Eltern in die Düsseldorf­er Arztpraxis von Dr. Hermann Josef Kahl. Sie wollen wissen, ob es in Ordnung ist, dass ihrer Tochter schon Brüste wachsen oder dem Sohn schon die Stimme bricht. Ob es mit neun, zehn oder elf Jahren nicht zu früh sei mit der Pubertät. „Von dieser Erfahrung können eigentlich alle meine Kollegen berichten“, sagt Kahl, der auch Sprecher seines Berufsverb­andes ist. Die Erlebnisse aus dem Praxisallt­ag lassen sich auch mit Zahlen belegen.

So lag laut dem Kinder- und Jugendgesu­ndheitssur­vey (KiGGS) des Robert-KochInstit­uts (RKI) das Durchschni­ttsalter für die erste Periode im Jahr 2007 bei Mädchen in Deutschlan­d bei 12,8 Jahren. Das war nicht immer so: Vor rund 110 Jahren setzte die Pubertät bei Kindern noch rund zwei bis drei Jahre später ein. Lässt sich das mit der gesellscha­ftlichen Entwicklun­g erklären, mit anderen Arbeitsund Essgewohnh­eiten? „Dazu braucht es Langzeitun­tersuchung­en, die aufwendig und teuer sind“, sagt der Biochemike­r und Endokrinol­oge Josef Köhrle, Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Endokrinol­ogie, die sich mit Hormonen und dem Stoffwechs­el beschäftig­t. „Die Antwort darauf ist komplex.“Beim RKI hat man das Thema Pubertätss­tatus „kapazitäts­bedingt“nicht weiter verfolgt. Mit der Pubertät verändert sich das Hormonsyst­em des Körpers. Der Prozess beginnt im Gehirn: Es schüttet Hormone aus, die in den Eierstöcke­n oder Hoden die Bildung von Sexualhorm­onen steigern und die Geschlecht­sfunktione­n des Körpers beeinfluss­en, Schamhaare und Geschlecht­sorgane wachsen und werden funktionsf­ähig.

Als einen der Hauptgründ­e für die nach vorne verschoben­e Pubertät sieht Köhrle die Gewichtszu­nahme bei Kindern. Eine schlechte Qualität der Nahrung, wenig Schlaf und zu wenig Bewegung, weil viel Freizeit vor Bildschirm­en verbracht wird, seien einige Ursachen für das Gewicht. Fettgewebe­einlagerun­gen führten zu früherer Reifung, darauf gebe es klare Hinweise aus Tierversuc­hen. Der gegenteili­ge Effekt zeigt sich bei Magersucht­patientinn­en oder Hochleistu­ngssportle­rinnen, die häufig keinen Zyklus mehr haben.

Auch Kahl sieht ein zu hohes Körpergewi­cht als mögliche Be- gründung. Diskutiert werde als Ursache aber auch eine gestiegene Lebensqual­ität, sagt er. „Die Ernährung ist besser geworden, genauso die Hygiene und die medizinisc­he Versorgung“, sagt Kahl. Es gebe Studien, die einen Zusammenha­ng zwischen einer früheren körperlich­en Entwicklun­g und dem Lebensumfe­ld belegten. „Es gibt heute einfach weniger Faktoren, die ein gesundes Heranwachs­en stoppen.“

Hinzu kommt laut dem Endokrinol­ogen Josef Köhrle die Belastung mit hormonakti­ven Substanzen, sogenannte­n endokrinen Disruptore­n, bereits in der Schwangers­chaft. „Dadurch werden mehr Fettzellen statt Muskel- und Knochenzel­len gebildet, besonders bei Mädchen.“Für die Belastung des Kindes über die Mutter gebe es solide Daten aus Urin-Messungen von Schwangere­n.

Hormonell wirksame Stoffe finden sich etwa in Kunststoff­en und Körperpfle­geprodukte­n. In einer Studie untersucht­e die Umweltorga­nisation BUND im Jahr 2013 Kosmetika in Deutschlan­d und fand in nahezu jedem dritten Produkt solche Chemikalie­n, auch in Babyschnul­lern und Zahnbürste­n. Die Substanz heißt Bisphenol-A (BPA). Die EU schätzt diesen Stoff seit Dezember 2017 als besonders besorgnise­rregend ein, auch weil er fortpflanz­ungsschädi­gend sei. Ab 2020 ist die Verwendung von BPA in Thermopapi­er in der EU verboten. Das Umweltbund­esamt weist aber darauf hin, dass es noch in vielen Alltagspro­dukten wie Trinkflasc­hen, Konservend­osen und DVDs steckt. „Bisphenol-A ist jetzt das Aufregerwo­rt, aber es gibt eine ganze Reihe von gefährlich­en Substanzen, die einen giftigen Cocktail ausmachen können“, sagt Köhrle. Über die Hauptverur­sacher gebe es aber zu wenige Informatio­nen. „Ob es jetzt die Butterdose ist, die Plastikfol­ie, in die das Essen eingewicke­lt ist, das Getränk, die Kleidung – die Substanzen finden sich überall.“

Aber ganz unabhängig von den Ursachen – Probleme mit ihrem Körper haben in der Pubertät wohl die meisten Kinder. Für die, bei denen es sehr früh oder sehr spät losgeht, ist die Belastung aber besonders groß. „Einige Studien zeigen, dass sowohl Früh- als auch Spätent- wickler durchschni­ttlich ein erhöhtes Risiko für verschiede­ne soziale und emotionale Anpassungs­störungen haben“, sagt Entwicklun­gspsycholo­gin Michaela Riediger von der Universitä­t Jena. „Besonders gut belegt ist ein erhöhtes Depression­srisiko bei vergleichs­weise früh pubertiere­nden Mädchen.“

Kommen Eltern wegen einer ihrer Meinung nach zu früh einsetzend­en Pubertät zu Kahl in die Praxis, wird das Kind erst einmal untersucht. Er mahnt aber zu Gelassenhe­it. „Ist es ansonsten gesund, gibt es keinen Grund einzugreif­en“, sagt der Mediziner. Bei sehr jungen Kindern, also Sieben- oder Achtjährig­en, werde in jedem Fall noch ein Endokrinol­oge hinzugezog­en – auch um einen sehr seltenen hormonprod­uzierenden Tumor als Ursache auszuschli­eßen. „Stellt der Endokrinol­oge fest, dass die Hormonsitu­ation bei dem Kind nicht in Ordnung ist, kann man mit Hormonpräp­araten gegensteue­rn.“

Auch weil es zu einem Wachstumss­tillstand kommen kann. Denn mit dem Ende der Pubertät geht es bei den meisten auch nicht viel weiter in die Höhe. Setzt die Reifephase also früh ein, endet das Wachstum entspreche­nd früh.

Gewichtszu­nahme als mögliche Ursache

Mit Hormonpräp­araten gegensteue­rn

 ??  ?? Hormonakti­ve Substanzen lassen die Körper von Kindern schneller reifen, warnen Mediziner. Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa /pa
Hormonakti­ve Substanzen lassen die Körper von Kindern schneller reifen, warnen Mediziner. Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa /pa

Newspapers in German

Newspapers from Germany