Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Reformation feiern oder reformieren?
Kirchen und Christen leben allzeit von der Auseinandersetzung mit der überlieferten Botschaft
Dr. Aribert Rothe. Pfarrer aus Erfurt, schreibt zum Reformationsjubiläum:
Mitten in den zehn Jahren der ausgerufenen Reformationsdekade hatte der Wittenberger Propst Siegfried T. Kasparick (†) zehn Impulsfragen ins Land geschickt: „500 Jahre Reformation – Evangelisch in Mitteldeutschland? Was bedeutet denn das...“zum Beispiel für Tradition und Offenheit, Symbole und Gebäude, Bibel und Sprache, Glaube und Nächstenliebe? Er vermied dabei hervorzuheben, sich in einer der am stärksten säkularisierten Regionen der Welt bewähren zu müssen. Er verzichtete auch auf die übliche Engführung auf Luther.
Doch das Personalisierungskonzept der Kirchen-Kampagnen hatte längst Platz gegriffen. Mit seriellen, düster lackierten Lutherzwergen hatte die Veräußerlichung angefangen, fortgesetzt durch „exklusive KommWerbemittel von der Kirche für die Kirche“mit Luther-Bonbons, Luther-Schnäpsen, Luther-Papphockern, Lutherrosen-Cappuccino-Schablonen, der Frisbeescheibe mit der geistfreien Aufschrift „Hallo Luther“usf. Nichts dagegen zu sagen, wenn das Reformationsbrötchen als Blickfang auf den Plakaten der Thüringer Bachwochen prangt, schließlich steckt da richtige Musik dahinter – aber wenn nur Süßliches auf der Zunge bleibt? Doch über Geschmack lässt sich nicht streiten.
Die Kirchentage auf dem Weg zum Wittenberger Großfest haben sich jedenfalls von vordergründiger Lutherei gelöst. Nur in der Erfurter „Wiege der Reformation“fällt laut Motto viel „Licht auf Luther“. Aber wie hat sich die Jahrhundertfeier gewandelt! Hier wurde das letzte Mal noch heroisch „Luther als Thüringer. Seine germanisch-thüringische Abstammung in ihrer Bedeutung für seine Wesensart, Persönlichkeit und sein Werk“gefeiert. Heutzutage geht es eher um die Gretchenfrage (Weimar /Jena), Leben mit Musik und Disput (Leipzig), Forschen und Lieben (Dessau-Roßlau), „gute Nachricht“in Magdeburg und viel „Halleluja“in Eisleben und Halle. Beachtlich sind die gegenseitigen ökumenischen Einladungen, die konfessionelle Erinnerungskultur durch Stationen eines gemeinsamen Christusfestes neu auszurichten. Dazu Kardinal Marx: „Unser gemeinsames Zeugnis für Jesus Christus ist heute in unserer Gesellschaft und bei der Suche vieler Zeitgenossen nach Halt und Orientierung von besonderer Dringlichkeit.“
Kann man sich zehn Jahre ohne Ermüdung auf ein historisches Gedenken einstimmen? Immerhin hat es als Anlass für Themenjahre funktioniert, die treffend das protestantische Feld markieren. Religiös und sozialethisch entfaltet, sind ihre Stichworte damit keineswegs abgehakt: Vertrauen, Eine Welt, Bild und Bibel, Politik, Toleranz, Musik, Freiheit, Bildung, Bekenntnis. Es bleibt dabei, Antworten des christlichen Glaubens auf aktuelle Zeitprobleme und individuelle Existenzfragen zu beziehen und zündend neu auszusagen. Kirchen und Christenmenschen leben allzeit von der Auseinandersetzung mit der überlieferten Botschaft. Deshalb hört das Reformieren nicht auf bis zum Jüngsten Tag.
Nur so kommt man den Reformatoren nahe und über sie hinaus. Dass sie großartige Persönlichkeiten waren, aber nicht ohne scharfe Ecken und üble Kanten zu haben sind, ist inzwischen deutlich. Der Blick auf die Schwachstellen darf nicht das eigentliche Anliegen außer Acht lassen. Luthers Gnadenerkenntnis Gottes widerlegt seinen Judenhass. Eigentlich setzt er ganz allein auf Gottes Wort und den Glauben. Nur „so wurde er für die Neuzeit zum Schlüsselsymbol des freien Menschen, des Einzelnen in der freien Selbstbestimmung des Gewissens. Die Menschlichkeit des Menschen machen zu wollen, produziert Unmenschlichkeit. Luthers theologischer Grunderfahrung und Erkenntnis, dass der Mensch allein durch Gnade und allein durch Vertrauen gerettet werden kann, entspricht [es…], dass menschliche Selbstentfaltung aus einem ‚Grundvertrauen’ lebt, das sich liebender Zuwendung verdankt“(Heino Falcke). Statt banaler Selbstherrlichkeit ist Verantwortung vor Gott und dem Nächsten gefragt. Eine solche Haltung kommt nicht von selbst. Sie muss gebildet werden. Luther erinnerte seine eigene schulische Bildung als Marter mit „Stäuben, Zittern, Angst und Jammern“und stellte die nötigen Mittel für kommunale Schulen über die der Straßeninstandsetzung: „Es ist eine große und ernsthafte Aufgabe, an der Christus in der Welt viel liegt, dem jungen Volk zu helfen und ihm zu raten. Wenn man Jahr für Jahr so viel aufwenden muss für quere Wege, Steine, Dämme und dergleichen unzählige Dinge mehr, damit die Stadt Frieden und Ruhe habe, warum sollte man nicht viel mehr oder doch genauso viel für die arme bedürftige Jugend aufwenden.“Und den Erwachsenen gab er Bibel und Katechismus zur Hand. Johannes Calvin beförderte die Gründung protestantischer Akademien zum Austausch über biblische Botschaft, Wissenschaft und Lebensführung. Welchen Rang diese Bildungsidee gewann, verdeutlicht Melanchthons Sehnsucht nach „dem Licht der himmlischen Akademie“am Ende seines Lebens.
Die reformatorische Bildungsbewegung hat zwar die moderne Bildungsgesellschaft vorbereitet, aber sich mit ihr keineswegs erledigt. Heute muss sie Alternativen fordern und praktizieren, die sich nicht zur wirtschaftsförmigen Leistungsoptimierung verfälschen lassen, sondern befähigen, im Dialog über Gott und die Welt eine humane Zukunft zu gestalten. Diese ist gefährdet und kommt nicht von selbst. Der Protestantismus ist vielfältig, und seine Stimmen sind unersetzlich. „Wenn er seine Kraft verliert, wenn er die Energie der Problemstellung Angst oder Vertrauen, Verzweiflung oder Glaube verliert, wenn er das Fundament in der Notwendigkeit der Gnadenlehre theologisch preisgibt, wenn er, wie es längst der Fall ist, den Kern der Erlösungsbedürftigkeit der Menschen […] überhaupt nicht mehr versteht, dann allerdings braucht man ihn nicht mehr, und dann ist er tatsächlich auf dem Weg zum Nihilismus oder Atheismus oder zum sozialpolitischen Aktionismus.“So mahnt Eugen Drewermann in seinem neuesten Buch „Luther wollte mehr“(S.159f.). Er weiß scheinbar immer alles besser. Aber wo er recht hat, hat er recht.
„Die reformatorische Bildungsbewegung hat zwar die moderne Bildungsgesellschaft vorbereitet, aber sich mit ihr keineswegs erledigt.“Aribert Rothe, Erfurt, Pfarrer