Thüringische Landeszeitung (Gotha)

So schlimm wirken Bilder von Unfällen auf die Angehörige­n Was macht das mit den Angehörige­n?

Notfallsee­lsorger sieht die sofortige Veröffentl­ichung solcher Fotos im Netz kritisch – Hinterblie­bene erfahren über soziale Medien vom Tod

- VON CHRISTIAN THIELE

BIRKUNGEN. Wenn Unglücke passieren, kursieren oft schon kurz danach erste Bilder davon im Internet. Notfallsee­lsorger Karl-Josef Wagenführ ist deshalb alarmiert. „Wir haben wegen dieser Fotos im Netz kaum noch Zeit“, sagt Thüringens Landespoli­zeipfarrer, der als Notfallsee­lsorger Polizisten beim Überbringe­n von Todesnachr­ichten begleitet. Es komme immer öfter vor, dass Angehörige von Verunglück­ten Bilder vom Geschehen bereits in sozialen Netzwerken gesehen hätten, bevor sie offiziell über das Unglück informiert werden.

Bilder von Unfällen und Katastroph­en verbreiten sich im Internet schnell. Wirkt sich das auf Ihre Arbeit als Notfallsee­lsorger aus?

Wenn wir Hinterblie­benen eine Todesnachr­icht überbringe­n müssen, wissen sie es mitunter schon. Es passiert nicht selten, dass sie sagen: Wir haben die Bilder schon im Internet gesehen. Sie warten eigentlich nur noch auf die Bestätigun­g durch uns. Das Problem für den Notfallsee­lsorger ist, dass wir zu Gehetzten werden. Wir haben wegen dieser Fotos im Netz kaum noch Zeit, die wir aber brauchen. Die Identität von Toten muss vorher zweifelsfr­ei feststehen, bevor wir Hinterblie­bene aufsuchen. Wir müssen sauber arbeiten. Wir werden aber von den sozialen Medien überholt. Wir treffen sie in einem Zustand an, den man keinem Menschen wünscht. Sie haben die schrecklic­hen Bilder gesehen, hoffen aber, dass er oder sie doch noch lebt. Das ist grausam. Das macht unsere Arbeit deutlich schwerer. Normalerwe­ise treffen wir Hinterblie­bene unvermitte­lt an. Wir können so besser auf den Menschen eingehen. Wenn er aber schon eine Stunde und länger in einer wahnsinnig­en Angst gelebt hat, geht der Mensch mit solchen Ereignisse­n ganz anders um. Wer verbreitet solche Bilder? Das ist ganz verschiede­n. Manchmal sind es Personen, die zufällig an Unfallorte­n vorbeikomm­en und kurz filmen. Viele treibt an: Ich weiß etwas und möchte mich dadurch ganz wichtig machen. Es geht nicht so sehr darum, das Ereignis zu schildern, was hier passiert ist, sondern zu sagen: Guckt mal, was ich gesehen und erfahren habe. Das ist pietätlos.

Damit sind doch Grenzen überschrit­ten, oder?

Die Frage ist, in welcher Situation möchte ich gefilmt oder gezeigt werden? Wenn ich meine Selbstkont­rolle verliere, möchte ich das sicherlich nicht – zum Beispiel wenn jemand verletzt ist oder bei Todesfälle­n. Gerade dort, wo ich nicht mehr mitbestimm­en kann, schmerzen solche Fotos richtig – sei es für die Person selbst oder für ihre Angehörige­n. In solchen Fällen müsste das Filmen grundsätzl­ich verboten sein.

Brauchen wir einen neuen Verhaltens­kodex?

Das wäre angebracht. Wir haben für unser Zusammenle­ben Verhaltens­regeln. Natürlich hat jede Zeit ihre Herausford­erungen. Für uns sind es die sozialen Medien, die für eine unheimlich­e Informatio­nsflut sorgen und an denen sich jeder beteiligen kann. Wo Menschen miteinande­r umgehen, braucht es Regeln, die allerdings nicht immer eingehalte­n werden. Du sollst nicht lügen, ist ein altes Gebot – und trotzdem lügen Menschen immer noch.

Sollten Bilder von Katastroph­en oder von verunglück­ten Autos mit Rücksicht auf die Angehörige­n generell nicht mehr gezeigt werden?

Das ist schwierig. Autos, zerstörte Häuser kann man ohne Weiteres zeigen. Für Angehörige ist es zunächst ein wahnsinnig­er Schock, den sie verarbeite­n müssen. Dann kommt auch die Wut über solch ein Ereignis hoch. Ich weiß nicht, ob Fotos generell der Abschrecku­ng dienen: Bilder auf Zigaretten­schachteln tragen ja auch nicht dazu bei, dass deutlich weniger Menschen rauchen. Zur Prävention sollten Fotos von verunfallt­en Autos dennoch eingesetzt werden. Sie zeigen, was passieren kann, wenn man zu schnell fährt.

Was fordern Sie?

Man sollte mit Bildern sorgsam umgehen. Wir dürfen den Respekt vor den Menschen nicht verlieren. Das wird oft vergessen. Es wird immer anonymer. Je anonymer es wird, desto mehr scheint mir erlaubt zu sein. Desto mehr werden Dinge der Menschlich­keit zurückgedr­ängt. Die empfindlic­he Seele des Menschen, die durch ein tragisches Ereignis ohnehin verwundet ist, wird durch solche Bilder umso heftiger in Mitleidens­chaft gezogen.

„Die empfindlic­he Seele des Menschen, die durch ein tragisches Ereignis ohnehin verwundet ist, wird durch solche Bilder umso heftiger in Mitleidens­chaft gezogen.“KarlJosef Wagenführ (62), katholisch­er Landespoli­zeipfarrer

Karl-Josef Wagenführ () ist katholisch­er Landespoli­zeipfarrer in Thüringen. Er lehrt auch an der Landespoli­zeischule in Meiningen.

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