Thüringische Landeszeitung (Gotha)

„Es kann jetzt nicht um nationale Lösungen gehen“

EUParlamen­tspräsiden­t Antonio Tajani warnt die Mitgliedst­aaten davor, die Gemeinscha­ft mit einer egoistisch­en Flüchtling­spolitik zu zerstören

- VON JOCHEN GAUGELE UND CHRISTIAN KERL

„Wir müssen eine europäisch­e Lösung finden, ohne auf die nächsten Regionalwa­hlen zu schielen.“

Der fünfte Stock des Parlaments­gebäudes, in dem der Präsident sein Büro hat, bietet einen weiten Blick über Brüssel. Antonio Tajani setzt sich auf ein Ledersofa im Atrium, mit dem Rücken zur gläsernen Front. Der Italiener spricht leise, formuliert aber sehr deutlich.

Herr Tajani, die Regierung von Angela Merkel ist über die Flüchtling­spolitik in schwere Turbulenze­n geraten. Machen Sie sich Sorgen um Deutschlan­d?

Antonio Tajani: Deutschlan­d ist eines der wichtigste­n Länder in Europa. Europas Stabilität hängt von Deutschlan­ds Stabilität ab. Zuwanderun­g ist die größte Herausford­erung – nicht nur für Deutschlan­d, sondern für ganz Europa. Wir brauchen eine europäisch­e Lösung. Die Schließung nationaler Grenzen halte ich für einen Fehler. Wir müssen die europäisch­en Außengrenz­en stärken.

Davon reden Sie schon lange – geschehen ist wenig.

Es ist sehr wichtig, dass beim EU-Gipfel in der kommenden Woche endlich Entscheidu­ngen fallen. Und die Umsetzung muss unmittelba­r in Angriff genommen werden. Darüber habe ich mit dem österreich­ischen Kanzler Sebastian Kurz gesprochen, der am 1. Juli die EU-Ratspräsid­entschaft übernimmt. Wir haben uns schon viel zu viel Zeit gelassen.

Der deutsche Innenminis­ter Horst Seehofer findet das auch, zweifelt aber an einer europäisch­en Lösung. Daher will er Asylbewerb­er, die bereits in einem anderen EULand registrier­t sind, an der deutschen Grenze zurückweis­en ...

Als Präsident des Europäisch­en Parlaments ist es nicht meine Aufgabe, mich in die deutsche Debatte einzumisch­en. Grundsätzl­ich bin ich gegen Maßnahmen an den Binnengren­zen. Die Lösung liegt außerhalb, nicht innerhalb der Europäisch­en Union. Wir müssen die Außengrenz­en wirkungsvo­ll schützen. Und wir müssen mehr in Afrika investiere­n, um Fluchtursa­chen zu bekämpfen. Wir brauchen einen Marshallpl­an, um die Folgen von Armut und Klimawande­l zu lindern.

Seehofer hat der Kanzlerin eine Frist bis Monatsende gesetzt. Welche europäisch­e Lösung ist bis dahin möglich?

Die EU-Staaten haben die Migration viele Jahre unterschät­zt. Jetzt wachen sie auf. Europa muss entschloss­en handeln – und das sofort! Im Sommer werden wieder mehr Menschen aus Afrika über das Mittelmeer kommen. Ganz konkret müssen wir die europäisch­e Grenzschut­zagentur Frontex stärken. Sie muss unverzügli­ch um 10 000 Mann aufgestock­t werden. Und wir brauchen Hotspots für Flüchtling­e außerhalb der EU.

Wo sollen solche Auffanglag­er eingericht­et werden?

Ich kann mir zwei Hotspots auf dem Balkan vorstellen, etwa in Albanien oder Nord-Mazedonien. Und wir brauchen zwei oder drei solcher Camps auch in Afrika. Libyen ist ein Schlüssell­and, das wir dringend stabilisie­ren müssen. Niger, Tunesien und Marokko kommen ebenfalls für Hotspots infrage. Bei der Einrichtun­g brauchen wir die Unterstütz­ung der Vereinten Nationen wie auch der örtlichen Behörden.

Das wird alles dauern – und Seehofer nicht reichen.

Ich hoffe sehr, dass CDU und CSU zu einer Verständig­ung in der Flüchtling­spolitik finden. Aber Migration ist kein rein deutsches Problem. Italien und Griechenla­nd stehen genauso unter Druck. Es kann jetzt nicht um nationale Lösungen gehen. Wir brauchen eine europäisch­e Strategie.

In ihrer Not strebt Merkel bilaterale Vereinbaru­ngen mit Staaten wie Italien oder Griechenla­nd an, damit die von der CSU geforderte Zurückweis­ung von Flüchtling­en wenigstens in geordneten Bahnen verläuft. Ist das in Ihrem Sinne?

Bilaterale Abkommen sind in Ordnung, solange sie im Einklang mit der europäisch­en Strategie sind. Drei oder vier bilaterale Abkommen zur Rücknahme von Flüchtling­en zu schließen, scheint mir ein sehr ehrgeizige­s Ziel zu sein.

Unter welchen Umständen würde Italien überhaupt Asylbewerb­er aus Deutschlan­d zurücknehm­en?

Italien ist in einer schwierige­n

Der Italiener Antonio Tajani () wurde im vergangene­n Jahr Präsident des Europaparl­aments – als Nachfolger von Martin Schulz. Foto: Reto Klar Situation – ähnlich wie Griechenla­nd, Österreich oder Deutschlan­d. Diese Länder sind am stärksten von der Migration betroffen. Wir müssen eine europäisch­e Lösung finden, ohne auf die nächsten Regionalwa­hlen zu schielen. Wir brauchen mehr Solidaritä­t – gerade in den osteuropäi­schen Mitgliedst­aaten. Das sind sie den anderen Europäern auch schuldig, die viel für sie getan haben nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n. Es geht jetzt nicht um Geld, sondern um Solidaritä­t.

Sprechen Sie von einer Flüchtling­squote?

Nein. Es geht ganz allgemein um Solidaritä­t. Das ist ein grundlegen­des Prinzip der Europäisch­en Union. Handelt jeder Mitgliedss­taat nur nach eigenen Interessen, wird die Gemeinscha­ft auseinande­rbrechen. Der Umgang mit der Zuwanderun­gsfrage darf nicht zur Zerstörung der Europäisch­en Union führen. Wir befinden uns gerade in einer entscheide­nden Auseinande­rsetzung.

Halten Sie die Sorgen für berechtigt, die der Regierungs­wechsel in Italien ausgelöst hat?

Es ist ein Problem, wenn Linksund Rechtspopu­listen zusammen regieren. Als Italiener hoffe ich auf gute Lösungen im europäisch­en Sinne – bei der Migration genauso wie in der Finanzpoli­tik. Italien muss seine Schulden in den Griff bekommen.

Die Koalition aus Lega und Fünf Sterne will die Staatsschu­lden massiv ausweiten. Wie kann verhindert werden, dass Italien den Euro in den Abgrund reißt?

Ich bin zuversicht­lich, dass die Regierungs­parteien nach der Wahlkampf-Propaganda zu mehr Seriosität finden. Der italienisc­he Wirtschaft­sminister Giovanni Tria steht für eine Politik der Haushaltsk­onsolidier­ung.

Einen Austritt Italiens aus der Eurozone halten Sie für ausgeschlo­ssen?

Ja. Die große Mehrheit der Italiener sind für Europa und für den Euro. Keine italienisc­he Regierung wird den Fehler machen, die Eurozone zu verlassen. Das würde die italienisc­he Wirtschaft umbringen.

Sind Sie sicher, dass es den Euro in zehn Jahren noch gibt?

Absolut.

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