Thüringische Landeszeitung (Gotha)

„Es fehlt schlicht am Personal“

Handwerksp­räsident Hans Peter Wollseifer über wochenlang­es Warten auf Maler und Klempner – und die Frage: Was verdient ein Meister?

- VON KARSTEN KAMMHOLZ UND BEATE KRANZ

Hans Peter Wollseifer war 21 Jahre alt, als sein Vater starb und er als junger Malermeist­er den kleinen elterliche­n Malerbtrie­b in Hürth bei Köln übernahm. Heute ist der 62-Jährige Deutschlan­ds oberster Handwerker. Als Präsident des Zentralver­bands des Deutschen Handwerks (ZDH) vertritt Wollseifer die Interessen von mehr als einer Million Betrieben mit rund 5,4 Millionen Mitarbeite­rn. Deren Auftragsla­ge könnte derzeit besser nicht sein – oft zum Leidwesen von Kunden.

Herr Wollseifer, wie erklären Sie sich den Boom in der Handwerksb­ranche?

Hans Peter Wollseifer: Wir haben eine extrem hohe Nachfrage, dazu sehr niedrige Zinsen. Das begünstigt die Auftragsla­ge. Die Auftragsbü­cher sind prall gefüllt. Doch es gibt nicht genügend Fachkräfte. Über viele Jahre haben sich zu wenig Jugendlich­e für eine Lehre im Handwerk entschiede­n. Jedes Jahr fehlen 15 000 bis 20 000 Azubis und Lehrlinge.

Wie viele zusätzlich­e Mitarbeite­r im Handwerk brauchen Sie?

Derzeit könnten wir 200 000 bis 250 000 zusätzlich­e Handwerker sehr gut in unseren Betrieben unterbring­en.

Wo ist der Mangel besonders groß?

Ganz besonders bei den Bäckern und Fleischern. Auch bei Klempnerbe­trieben, Sanitärund Heizungsbe­trieben und in der Haustechni­k ist der Mangel an Auszubilde­nden und Fachkräfte­n gravierend.

Wer heute einen Handwerker braucht, kann sich auf wochenlang­es Warten einstellen.

Die Handwerker arbeiten schon derzeit an ihrer Belastungs­grenze. Die Auftragsbü­cher sind so voll, dass Aufträge abgelehnt werden müssen, wenn sie nicht von Stammkunde­n kommen. Das ist eine schwierige Lage, die keinem Handwerker gefällt. Aber es fehlt schlicht am Personal. Das Problem mit den langen

Wartezeite­n im Handwerk wird sich noch verschärfe­n. Rund 200 000 Betriebe mit rund einer Million Mitarbeite­rn stehen in den kommenden fünf bis sechs Jahren vor einem Generation­swechsel. Nachfolger werden gesucht.

Und werden Nachfolger gefunden?

Für einen Meister ist das eine große Chance, sich selbststän­dig zu machen. Allerdings fürchten

wir, dass nicht alle Betriebe fortgeführ­t werden. Es gibt weder in den Familien selbst noch von außen genügend Nachwuchs. Wenn ein einzelner Handwerksb­etrieb seine Tür schließt, dann fallen im Schnitt vier bis sechs Arbeitsplä­tze weg. Das hört sich erst mal nicht so viel an. Wenn aber 50 000 Betriebe nicht übernommen werden, dann sind das rund 250 000 bis 300 000 Arbeitsplä­tze, die dadurch wegfallen. Das trifft oft Betriebe auf dem Land – wodurch neue Versorgung­sengpässe entstehen. Aber dieser drohende Schwund scheint kaum einen zu kümmern, auch nicht in der Politik. Hier sind Arbeitsplä­tze im großen Stil in Gefahr.

Wie wollen Sie die Misere lösen?

Wir werben auf allen Kanälen für das Handwerk. Wir brauchen die Jugend so dringend, sie ist unsere Zukunft. Wir haben zusammen mit dem Bundesbild­ungsminist­erium und der Kultusmini­sterkonfer­enz Programme initiiert, die das Handwerk attraktive­r machen. Es gibt in einigen Bundesländ­ern bereits Pilotproje­kte für das „Berufsabit­ur“, das ein vollwertig­es Abitur mit einem Ausbildung­sberuf samt Gesellenpr­üfung verbindet. Das dauert insgesamt vierbis viereinhal­b Jahre. Wir kümmern uns auch um Migranten, die schon länger im Land leben, um ihnen das Handwerk näherzubri­ngen.

Fakt ist: Die Ausbildung im Handwerk schreckt viele junge Menschen ab. Liegt es an der Dauer?

Nein, die Ausbildung ist mit drei Jahren nicht zu lang. Die Ansprüche an die Berufe steigen ja. Die Betriebe werden innovative­r und spezialisi­erter, die Digitalisi­erung hält Einzug. Es ist leider auch so, dass die berufliche Ausbildung lange Zeit schlechtge­redet worden ist. Es haperte an der gesellscha­ftlichen Anerkennun­g.

Wer ist schuld am Imageverlu­st?

Zuerst ist da die OECD, die Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g. Sie hat unseren Politikern jahrelang eingeredet, dass die deutsche Akademiker­quote zu niedrig ist. Die OECD hat nicht verstanden, dass Deutschlan­d anders tickt als andere Staaten. Bei uns sind viele Berufe, die anderswo an der Hochschule gelehrt werden, klassische Ausbildung­sberufe: Augenoptik­er, Zahntechni­ker, orthopädis­che Fachkräfte zum Beispiel.

Auch Geld spielt eine Rolle bei der Entscheidu­ng, sich für eine Ausbildung zu entscheide­n oder doch Studium zu starten. Was verdient heute ein Malermeist­er?

Das Handwerk ist lukrativer, als viele denken. Ein Meister in betriebsle­itender Funktion erhält in größeren Betrieben zwischen 3500 und 5500 Euro brutto. Wer richtig gut ist und ein eigenes Unternehme­n hat, kann noch wesentlich mehr verdienen. Ich kenne einen Studienaus­steiger der Medizin, der eine Ausbildung zum Hörakustik­er gemacht hat. Inzwischen ist er Chef von 57 Filialen und enorm erfolgreic­h. Für die OECD wäre er ein Bildungsab­steiger. Für uns sind Studienaus­steiger eine wichtige Zielgruppe – gerade auch mit Blick auf die vielen anstehende­n Betriebsna­chfolgen.

Warum?

Wir können einen Studienaus­steiger theoretisc­h innerhalb von drei Jahren zum Meister machen. Es kann nicht sein, dass fast 60 Prozent der jungen Leute ins Studium gehen. Gleichzeit­ig brechen jedes Jahr rund 100 000 ihr Studium ab. Wir fragen uns: Wo sind die, was machen die? Wir lassen die jungen Leute ins Nirwana laufen. Wir wollen diese Aussteiger von den vielfältig­en Berufen im Handwerk überzeugen.

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„Das Handwerk ist lukrativer, als viele denken“, sagt Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralver­bands des Deutschen Handwerks. Foto: Reto Klar

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