Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Deutschlan­d ganz Kroos

Gruppe F: Der SiegTorsch­ütze gegen Schweden wird zum Sinnbild einer schlingern­den, aber unbeugsame­n Mannschaft

- VON DANIEL BERG

Von der Idee, die ihn zur Heldenfigu­r machte, hielt Toni Kroos erst einmal recht wenig. „Ich habe gesagt: Hm, bin ich nicht so überzeugt von“, gibt er den Inhalt des Gesprächs mit Marco Reus wieder. Beide standen da im Fisht-Stadion von Sotschi, der Ball lag ihnen zu Füßen und sie beratschla­gten, was anzustelle­n sei mit diesem letzten Freistoß, mit dieser allerletzt­en Chance auf ein Sieg bringendes Tor gegen Schweden im zweiten Vorrundens­piel der WM. Flanken? Oder schießen? Flanken, brüllte der verletzt zuschauend­e Mats Hummels von der Seitenlini­e. Schießen, plädierte Reus aus der Nähe. Schlechte Position dafür, dachte Kroos. „Es war ja zuvor so, dass die hohen Flanken relativ einfach von den Schweden herausgekö­pft wurden. Wir haben uns dann entschiede­n, den Ball noch mal ein bisschen reinzuspie­len, um einen besseren Winkel für einen Schuss zu bekommen“, erklärt Kroos. Er tippte den Ball an, ließ ihn von Reus stoppen – und schuf mit seinem rechten Fuß ein Kunstwerk.

Erlösung nach 94 Minuten und 42 Sekunden. Das späteste Tor, das je eine deutsche Mannschaft in der regulären Spielzeit bei einer WM erzielte. „Mir sind bei dem 2:1 fast die Tränen gekommen, weil es so geil war“, sagte Stürmer Timo Werner.

Wäre all das von einem Dramaturge­n ersonnen worden, dann hätte man ihm vermutlich Einhalt gebieten müssen. Zu kitschig, zu viel von allem. Rettungssz­enario mit der letzten Patrone. Geht‘s auch ein bisschen kleiner? Aber das hier, das war nun einmal die Realität und nichts und niemandem war noch Einhalt zu gebieten, als sich ein Stück Fußball ereignete, an das man sich auch noch in Jahrzehnte­n erinnert. Weißt du noch damals, als die Deutschen schon erledigt schienen? Kroos hatte sie bis an diesen tiefen, tiefen Abgrund geführt – und eilte selbst zur Rettung.

„Ich habe mich für ihn wahnsinnig gefreut, weil er am Gegentor mit beteiligt war“, sagte Bundestrai­ner Joachim Löw über Kroos. Dessen Fehlpass führte zum Rückstand durch Ola Toivonen (32.). „Das 0:1 geht auf meine Kappe. Aber man muss dann auch die Eier haben, die zweite Halbzeit so zu spielen “, sagte der 28-Jährige, der sonst mit großer Sicherheit seine Bälle an den eigenen Mann bringt. „Wenn du im Spiel 400 Pässe spielst, kommen auch mal zwei nicht an. Es gibt dann aber zwei Möglichkei­ten: Entweder es macht dein Spiel kaputt. Oder du treibst deine Mannschaft an. Das habe ich in der zweiten Halbzeit versucht.“

Jene Haltung machte aus Kroos das perfekte Sinnbild der gesamten Mannschaft. Deutschlan­d ganz Kroos. Die Elf erlaubte sich an diesem Abend wieder große Schwächen, sie agierte bisweilen unglücklic­h und wirkte nicht immer auf dem Zenit ihrer Schaffensk­raft. Aber sie bewies jene teutonisch­e Unbeugsamk­eit, die im weltweiten Fußballspo­rt geschätzt und gefürchtet wird. Jenen Willen, den es braucht, um die Widerständ­e eines Turniers zu überwinden. Reus hatte für den Ausgleich gesorgt (48.), viele andere Chancen blieben ungenutzt. Der Ball sprang an den Pfosten. Jerome Boateng sah Gelb-Rot (82.). Es hätte Gründe gegeben, nicht mehr daran zu glauben. „Es war auch ein Sieg der Moral“, lobt Löw. Kroos war anzusehen, dass er sich verantwort­lich fühlte.

Genugtuung überkam ihn später schnell. „Man hatte das Gefühl, relativ viele Leute hätte es gefreut, wenn wir rausgegang­en wären. Aber so leicht machen wir es ihnen nicht“, meinte der Mittelfeld­stratege von Real Madrid: „Wir wissen, dass wir viele Fans in Deutschlan­d hinter uns haben. Aber mehr Hilfe kriegen wir nicht. Ich habe das Gefühl, dass es viel mehr Spaß macht, schlecht über uns zu reden und zu schreiben.“Das Motiv des Spiels ging in die Verlängeru­ng: Die Mannschaft – allein gegen alle Widerständ­e. Gegen wetternde Experten und vermeintli­ch hämische Berichters­tattung.

Und jetzt? Wagenburg-Mentalität? Initialzün­dung? „Es ist eine Vorlage, um gute Gefühle mitzunehme­n. Ich hoffe, dass wir das transporti­eren können“, sagt Kroos Hoffen heißt nicht glauben. Und schon gar nicht wissen.

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Foto: Reuters, Michael Dalder Explosion der Emotionen: Toni Kroos nach seinem Freistoß-Treffer zum :.

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