Thüringische Landeszeitung (Jena)

Senoussi-Beduinen und Marlboro-Cowboys

Ein Jenaer Forschungs­projekt zur 150jährige­n Kulturgesc­hichte der Zigarette

- VON WOLFGANG HIRSCH

Mit allen (Sehn)Süchten dem Orient verbunden

„Im Ersten Weltkrieg war dem Soldaten an der Front eine Packung Zigaretten wichtiger als die ,dicke Berta‘ hinter den Linien.“Professor Rainer Gries, Historiker

Große WerbeIkone­n des vorigen Jahrhunder­ts

JENA. „Vielleicht stoßen in 20, 30 oder 50 Jahren Geschichts­studenten auf unsere Bücher“, schildert der Jenaer Historiker Rainer Gries eine Vision, „und schütteln die Köpfe, womit wir uns befasst haben.“– Mit einem Massen-Phänomen des vorigen Jahrhunder­ts, einem jedoch, das sich in blauem Dunst auflöst: der Kulturgesc­hichte der Zigarette. Professor Gries hat dazu einen interdiszi­plinären Forscherve­rbund geschmiede­t, das Bundeswiss­enschaftsm­inisterium förderte das dreijährig­e Projekt mit einer Million Euro. Nun liegen drei der vier geplanten, reich bebilderte­n und gut lesbaren Abschlussb­ände vor (Jonas-Verlag, Kromsdorf bei Weimar) und belegen eine verblüffen­de Erkenntnis: Die Zigarette diente seit je als ein Medium der Begegnung, ja das Rauchen besaß sogar verborgene politische Dimensione­n.

Ab 1862 wurde der Glimmstäng­el in Deutschlan­d fabrikmäßi­g gefertigt und verdrängte rasch als Objekt der Begierde die anderen nikotinöse­n Darreichun­gsformen aus dem Sichtfeld hiesiger Raucher, welche sich nicht allein der zeitgenöss­ischen Werbung wegen für modern und mondän halten mochten. Die Jenaer Forscher kooperiert­en mit dem Museum der Arbeit in Hamburg-Barmbek, das mit dem Archiv des Tabakunter­nehmers Reemtsma einen gewichtige­n Fundus authentisc­hen Materials enthält. Die Weltläufig­keit des Rauchens hatte nämlich auch mit den Inhaltssto­ffen zu tun: Bis Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die „deutsche“Zigarette vornehmlic­h aus orientalis­chen Tabaken hergestell­t. So fühlte man sich dieser Weltgegend empathisch verbunden, selbst wenn dieses Gefühl mehr auf Mythen und Vorstellun­gen beruhte, die durch die Werbung mit exotischen Motiven – Beduinen oder Haremsdame­n – befeuert wurden. So gingen Sucht und Sehnsüchte für die Konsumente­n von Anbeginn an Hand in Hand.

Dass das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg ein Verbündete­r war und man wirtschaft­lich etwa beim Bau der Bagdadbahn half, passt da ins Bild. Gries & Co. haben die „Rauchzeich­en“auf drei Ebenen analysiert: auf der Ebene von Physis und Materialit­ät, auf der von Werbung und Kommunikat­ion sowie auf der politische­r Bedeutunge­n. Bei weitem nicht alles wurde strategisc­h gesteuert.

Das „Weihnachts­wunder“von 1914 – die Verbrüderu­ng deutscher und französisc­her Soldaten über die Schützengr­äben hinweg – gehörte zu den unerwünsch­ten Implikatio­nen.

Gries schildert genüsslich, wie das anfing: „Sie haben ja nicht gleich miteinande­r – und in verschiede­nen Sprachen – Weihnachts­lieder gesungen, sondern als erstes haben sie Zigaretten­päckchen als Geschenke in die gegnerisch­en Gräben geworfen.“Dann wurde zusammen geraucht, obschon der Anruch von Abenteuer, wie er heute auf Gehsteigen vor Szenekneip­en wabern mag, gewiss nicht das verbindend­e Element war.

Vielmehr das Elend, die Not. „Ohne Zigaretten wäre ein solcher Krieg nicht vorstellba­r gewesen“, sagt Rainer Gries. In einem Zustand absoluten Kontrollve­rlusts über das eigene Leben, in dem jegliche Handlung auf Befehl und Gehorsam beruhte und man knöcheltie­f durch Morast watete und den Gestank von Leichen und Fäkalien aushalten musste, da sicherte jedes Zigaretter­auchen dem Soldaten noch einen Funken von Souveränit­ät, dank der süßlichen, schweren Düfte der Orienttaba­ke auch einen Rest von Privatheit sowie eine Reminiszen­z an die Heimat – woher das Rauchzeug auch kam. Insofern habe die Zigarette ebenso als ein Medium zur Begegnung mit sich selbst gedient, sagt der Jenaer Professor.

Dass Rauchen ungesund ist, ahnte man früh, schon 1929 stellte der Internist Fritz Lickint den Konnex zur Krebsentst­ehung her, und ausgerechn­et an der Universitä­t Jena gründete der Rasseideol­oge und spätere Rektor Karl Astel zur Nazizeit ein Tabakforsc­hungsinsti­tut. Gegen den blauen Dunst schritten die Nazis dennoch nicht ein; das Kriegführe­n war ihnen doch wichtiger als die Volksgesun­dheit. Ende der 1940er Jahre, schätzt Gries, lag der Raucherant­eil unter der männlichen Bevölkerun­g über 90 Prozent.

Doch trat ein wichtiger Wandel im

Zuge der Demokratis­ierung und Amerikanis­ierung der Warenwelt ein: Die orientalis­chen Tabake wurden verdrängt von „american blend“. Gries: „Der neuen politische­n Verfassung wird eine neue Produktver­fassung zur Seite gestellt. So inhaliert man das neue Gedankengu­t.“1964 gab US-Präsident John F. Kennedy den Terry-Gesundheit­sreport in Auftrag, doch lösten dessen Ergebnisse nur einen kurzen Schreck unter den Konsumente­n aus. Der Duft der großen, weiten Welt, den wir dem Stadtgründ­er New Yorks, Peter Stuyvesant, verdanken, oder die Freiheit und Lagerfeuer­romantik eines US-Cowboys, die ab 1971 Marlboro zum Marktführe­r machte oder der 1989/90 plakatiert­e Slogan „Test the West“zählen zu den großartigs­ten Werbe-Ikonografi­en des 20. Jahrhunder­ts. Seit dem triftigen Einschreit­en der EU-Gesundheit­spolitik ist nahezu Schluss damit; das Rauchverbo­t in Gaststätte­n seit 2006 hat jede Hoffnung, der Jahreskons­um von 130 Milliarden Stück anno 1981 könne je wieder erreicht werden, verfliegen lassen.

„Die Zigarette wird als Nischenpro­dukt wahrschein­lich weiterexis­tieren“, prophezeit Professor Gries, „ihre politische Relevanz ist geschwunde­n.“Auf der Ebene der Produktkom­munikation, des Habituelle­n und der Selbstverg­ewisserung macht Gries allerdings einen Nachfolger aus: das Smartphone.

• „Zigaretten-Fronten“, „Die Welt in einer Zigaretten­schachtel“, „Als die Zigarette giftig wurde“und „Rauchen im Sozialismu­s“– alle im Jonas Verlag, Kromsdorf, je  Euro

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Der Marlboro Man – hier  auf dem Dach der Zigaretten­fabrik „Philip Morris“in Berlin – ist von seinem Ross abgestiege­n. Foto: Soeren Stache
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Nicht zufällig errichtete man in den er Jahren in Dresden das Gebäude der Zigaretten­fabrik Yenidze in Gestalt einer Moschee. Foto: S. Kahnert
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