Thüringische Landeszeitung (Jena)
Quidditch für Nicht-Zauberer
Immer mehr junge Menschen begeistern sich für diese Sportart, die längst der HarryPotterMagierwelt entwachsen ist – Besuch bei der OstLiga in Jena
JENA. Jeden Moment, so scheint es, könnte sich ein Dementor auf die Spieler herabstürzen. Eine jener grausamen, magischen Kreaturen, die Menschen alles Glück und manchmal sogar die Seele aussaugen. Jedenfalls war es damals so, als Harry Potter in „Der Gefangene von Askaban“bei einem Wetter Quidditch spielte, das dem nicht so unähnlich war, in dem die Jena Jobberknolls jetzt dem Quaffel nachjagen.
„Sarah, bleib doch an der Mittellinie! Das reicht! Das reicht!“
Der Himmel ist mit dichten Wolken behangen, es regnet und der Wind pfeift eisig. So eisig, dass zwar einer der Schiedsrichter in kurzer Hose über das Feld stürmt. Aber einige der Ersatzspieler der Jobberknolls in eine dicke Decke gehüllt am Spielfeldrand stehen, als sie dabei zusehen, wie ihre Mannschaft alle Mühe hat, ihre Torringe gegen die Berlin Bluecaps zu verteidigen.
„Stefan ist dabei, Stefan ist dabei, Stefan ist dabei!“
Die Mannschaft Harrys hatte ihr Spiel letztlich verloren. Weil Dementoren ihn angegriffen hatten und er deshalb vom Besen gestürzt war.
Einen so harten Sturz wie Harry immerhin erleiden die Jobberknolls nicht, wenn sie im Laufe des Spiels immer wieder von der PVC-Stange zwischen ihren Beinen steigen müssen, die nur noch vage an den Besen erinnert, auf dem Quidditch in der Welt des Harry Potter gespielt wird; ein Zugeständnis daran, dass die Muggel-Welt eben meist nicht ganz so zauberhaft ist wie die Welt, die die britische Autorin J. K. Rowling geschaffen hat und dass Besen deshalb hier nur selten fliegen. „Achtung, links, links, Mitte!“Was das, was auf den Abstieg von der PVC-Stange folgt, für die Spieler aber nur ein bisschen besser macht: Ehe sie wieder aufsteigen und mitspielen dürfen, müssen sie die Torringe des eigenen Teams berühren – und dafür im schlimmsten Fall über den gesamten Platz sprinten. Das ist körperlich so anstrengend, dass die Spieler regelmäßig ausgetauscht werden müssen.
Für die Jobberknolls gilt das umso mehr, weil das Spiel gegen die Berliner schon das zweite Spiel dieses ersten Spieltages der Ost-Liga des Deutschen Quidditchbundes ist. Ausgetragen wird er auf dem Gelände des Universitätssportvereins Jena; dort, wo im Juni auch die Deutschen Quidditch-Meisterschaften stattfinden. Mit bis zu 25 Teams und mehr als 500 Quidditch-Sportlern aus dem gesamten Bundesgebiet rechnen die Veranstalter dann. „Sarah, bleib da!“
Die körperliche Erschöpfung bedeutet allerdings nicht, dass sich Bluecaps und Jobberknolls auf dem Platz irgendetwas schenken würden. In den HarryPotter-Büchern und -Filmen wird immer wieder deutlich, was für ein hartes Spiel das ist. Und so, wie an diesem Sonntag auf dem Spielfeld in Jena die Zuschauer und Ersatzspieler ihre Mannschaften anfeuern und taktische Weisheiten brüllen, ja wie sehr die Spieler immer wieder ineinander krachen, zeigt sich, dass sich diese Härte durchaus aus der magischen in die Muggel-Welt übertragen hat. Selbst die kleine, blonde Luna beispielsweise – die nichts mit der Luna Lovegood aus der Harry-Potter-Welt zu tun hat, sondern für die Jobberknolls spielt – geht die Berliner permanent körperlich an. Sie hält die gegnerischen Spieler oft eine Armlänge auf Abstand, indem sie sie mit einer Hand auf deren Brust wegzuschieben versucht. Stefan, ein anderes Teammitglied, kracht nach etwa einer Viertelstunde Spielzeit so dermaßen in einen gegnerischen Spieler, das beide auf dem Rasen landen und sich erst einmal einen Augenblick lang zu fragen scheinen, ob sie beide noch heil sind. Was dem Schiedsrichter nicht gefällt, weil er glaubt, Stefan habe seinen Gegner zu sehr von der Seite statt von vorne gerammt. Alles in allem hat Quidditch doch viel mit Rugby zu tun. Nur, dass die Spieler eben fast permanent einen PVC-Stock zwischen den Beinen haben. Und dass dauernd mehrere Bälle über das Spielfeld fliegen, die Spieler ebenso zeitweise ausschalten können wie die Spieler durch den Vollkontakt zueinander das tun können.
„Wenn die Beater euch stören, dann knallt sie einfach weg!“
Und das ist ziemlich sicher auch der Grund, weshalb Quidditch seine Wurzeln zwar unverkennbar in der Harry-PotterWelt hat. Als Sport allerdings längst unabhängig davon funktioniert. „Das ist ein harter Sport“, sagt Luna. „Da haut man sich schon mal die Nase an.“Wer glaube, dieses Spiel spielen zu müssen, weil er ein „BücherNerd“ sei und die Harry-PotterGeschichten liebe, der halte nicht lange durch. Dazu passt, dass die meisten, die hier für die Jobberknolls auf dem Feld stehen, zuvor irgendwelchen andere Sportarten nachgegangen sind, ehe sie zum Quidditch kamen. Luna sagt, sie habe dies und das probiert und länger Basketball gespielt. Stefan erzählt, er habe einen Teil seiner Freizeit zuvor mit Fußball und Tennis verbracht.
Ähnlich breit gefächert ist das Spektrum der Fächer, die die Mitglieder der Jobberknolls – die Teil des Universitätssportvereins Jena sind – studieren, unter anderem: Geschichte, Jura, Germanistik, Biochemie, Archäologie, Wirtschaftswissenschaften, Politik, Sportwissenschaft. Wie wahrscheinlich die Mehrzahl Quidditch-Spieler sind die meisten von ihnen in ihren Zwanzigern; was bei aller Entfernung vom Harry-PotterUniversum dazu beiträgt, das trotzdem jeder Quidditch-Spieler die Geschichte von Harry, Ron und Hermine und ihrem Aufwachsen in Hogwarts und ihren Kampf gegen Lord Voldemort gut kennt. Immerhin ist diese Generation mit dem Hype um den Stoff aufgewachsen.
„Das mit dem frühen Stören ist geil, aber das können nicht alle gleichzeitig machen!“
Gemessen daran, dass Quidditch erst in den vergangenen Monaten einen wirklich großen Aufschwung erlebt hat, ist das Jenaer Team schon ziemlich lange in dieser Sportart aktiv – weil Sarah es im Herbst 2015 mitgegründet hatte; also noch vor der Quidditch-Weltmeisterschaft in Frankfurt am Main 2016, von der sie hier in Jena erzählen, dass sie die Zahl der Spieler in Deutschland rasant hat wachsen lassen. Im Deutschen Quidditchbund sind derzeit neben einer deutschen Nationalmannschaft 24 Vollmannschaften aus allen Regionen der Bundesrepublik in insgesamt sechs Liegen organisiert. Sarah wiederum war nach einem Auslandsaufenthalt in England 2011 und 2012 auf die Idee gekommen, diese Sportart – in der auf dem Feld fast nur Englisch gesprochen wird – nach Jena zu holen; wenn eben auch mit ein paar Jahren Verspätung. Dort, sagt sie, sei schon damals Quidditch gespielt worden. Allerdings habe sie zunächst Angst gehabt, beim Universitätssportverein Jena werde man sie wegen der Idee, mit PVC-Stangen über ein Feld zu rennen, auslachen. Was dort aber niemand tat. Wozu es auch gar keinen Grund gegeben hätte, wie sich schnell herausstellte. Innerhalb weniger Tage lagen zwanzig Anmeldungen für das Team vor. Nur die wenigsten der damaligen Mitspieler allerdings sind heute noch Teil der Jobberknolls. „Neiiinnn!!!“Sportlich wirklich erfolgreich endet dieser erste Spieltag der Ost-Liga für die Jobberknolls am Ende nicht; auch wenn sie – anders als ihre Gegner aus Leipzig und Berlin – ihren Namen unmittelbar der Harry-Potter-Mythologie, genauer: einem Vogel, entliehen haben und sich keine Dementoren auf die Spieler stürzen. Beide ihrer Spiele verlieren die Jenaer. Obwohl es ihrem Seeker im Spiel gegen die Berliner sogar gelingt, den Snitch zu fangen. Das ist jener in der Harry-Potter-Welt goldene Ball mit Flügeln, den Harry in der „Der Gefangene von Askaban“nicht erreichen kann, ehe die Dementoren ihn zu Fall bringen.
Bloß: Auf dem Spielfeld der Muggel-Welt erkennt der Schiedsrichter den Fang des Snitch durch die Jobberknolls nicht an. Dann fangen ihn die Berliner. So, wie ihn im Buch und im Film der direkte Gegenpart von Harry in diesem Spiel, Cedric Diggory, gefangen hatte.
„Da haut man sich schon mal die Nase an“