Thüringische Landeszeitung (Jena)
Dämme des Anstands
Über die Verrohung im Internet
Eine Verrohung des digitalen und öffentlichen Diskurses: Das haben wir den sozialen Medien zu verdanken. Zumindest sind diese ein Ort, wo Beschimpfungen und Beleidigungen tagtäglich zum guten Ton gehören. Leider.
Medienwissenschaftler sinnieren gerne darüber, ob Facebook die Fortsetzung des Stammtisches mit anderen Mitteln ist. Früher prosteten sich zehn Menschen in einer Kneipe zu, heute treffen sich Tausende im Netz. Das Phänomen der Echokammer ist allerdings geblieben: Man kommuniziert unter Gleichgesinnten und hat nur die Seiten gelikt, die die eigene Meinung bestätigen. Die geistige Inzucht, sie lebe hoch.
Ich war schon erstaunt, wie Jenaer, die den Stadtentwicklungsprozess ehrenamtlich als Themenpate begleiten und sich für ihre Stadt engagieren, sofort beschimpft werden: Da werden gleich die Grenzen hochgezogen und die Trennung zwischen Einheimischen und Auswärtigen vollzogen. Jena, weltoffene Stadt: Ich hoffe, dass es einen Unterschied gibt zwischen der veröffentlichten Meinung und der öffentlichen Meinung. Und ich weiß, dass sich im wirklichen Leben Menschen mit Anstand begegnen. Die Dämme des Anstands brechen anderswo. Wer am Stammtisch nur auf Streitereien und Stimmungsmache setzt, wäre vom Wirt längst mit einem Hausverbot belegt worden. Leider ist die digitale Welt viel liberaler.