Thüringische Landeszeitung (Jena)

Verhütung war und ist Frauensach­e

Historiker der Universitä­t Jena haben die Geschichte der „Wunschkind­pille“erforscht

- Von Stephan Laudien

JENA. Verhütung war – und ist – Frauensach­e! Über Jahrhunder­te versuchten Frauen, der Schicksalh­aftigkeit von Schwangers­chaften und Geburten zu entgehen und so die Zeugung und Geburt von Kindern auf den Fall zu beschränke­n, in dem das Kind erwünscht ist und aufgezogen werden kann. Die Methoden der Verhütung – von diversen Kräuterträ­nken bis zu selbstgefe­rtigten Kondomen – standen jedoch immer unter dem hohen Risiko des praktische­n Scheiterns. Erst mit der Erfindung chemischer Kontrazept­iva, der „Pille“, sollte sich das endlich ändern.

Der Historiker Lutz Niethammer von der Universitä­t Jena hat gemeinsam mit seiner Fachkolleg­in Silke Satjukow von der Universitä­t Magdeburg das Buch „Wenn die Chemie stimmt“. Geschlecht­erbeziehun­gen und Geburtenpl­anung im Zeitalter der Pille“herausgege­ben. Versammelt sind darin Aufsätze von Historiker­innen und Historiker­n sowie Wissenscha­ftlern anderer Diszipline­n aus der Kultur- und Sozialwiss­enschaft, die auf die Beiträge zweier wissenscha­ftlicher Tagungen in Jena zurückgehe­n.

„Es sind Beiträge zu einer Kulturgesc­hichte der Fertilität“, sagt Silke Satjukow. Dabei geht der Blick der Forscher weit über Deutschlan­d hinaus: Beschriebe­n werden die Situation in den einstigen sozialisti­schen Ostblockst­aaten, in den USA in den 1960er Jahren, in Russland ebenso wie in der Bundesrepu­blik und der DDR. Unter der Überschrif­t „Globale Ausblicke“werden zudem Argentinie­n, Brasilien, Südafrika, die Türkei und China in den Fokus gerückt. Ergänzend gibt es einen Exkurs in die Geschichte von Verhütung und Schwangers­chaftsabbr­uch. In einem Beitrag von Lutz Niethammer wird zudem die spannende und wechselvol­le Geschichte der Geburtenko­ntrolle in frühen islamische­n Ländern erzählt. „Dass wir im Zeitalter der Pille leben, lässt sich nur aus der begrenzten Wahrnehmun­g der westlichen Welt behaupten“, sagt Lutz Niethammer. Noch immer seien im weitaus größeren Teil der Welt herkömmlic­he Methoden wie Diaphragma, Spirale oder Sterilisat­ion die Mittel der Wahl. Auch seien die Diskussion­en um die „Pille“bis heute nicht verstummt: Die Einnahme wird aus religiösen Gründen in Frage gestellt, problemati­sch sind zudem die zahlreiche­n Nebenwirku­ngen der chemischen Kontrazept­iva.

Die Kulturgesc­hichte der Fertilität kennt zahlreiche Sonderwege. So ersetzte in der Sowjetunio­n und im heutigen Russland der Schwangers­chaftsabbr­uch faktisch legal die Verhütung. In der DDR hingegen wurde die „Antibaby-Pille“als „Wunschkind­pille“staatlich propagiert und gefördert. Das Präparat sollte es ermögliche­n, Berufstäti­gkeit und Mutterscha­ft besser zu vereinbare­n.

Erforscht haben die Geschichte der DDR-„Wunschkind­pille“die Historiker Annette Leo und Christian König in einem Forschungs­projekt an der Friedrich-Schiller-Universitä­t Jena. Sie befragten Frauen verschiede­ner Generation­en über ihre Erfahrunge­n mit der „Pille“und forschten in den Archiven. Ihre Ergebnisse haben sie in dem Buch „Die ‚Wunschkind­pille‘. Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpo­litik in der DDR“veröffentl­icht.

Offiziell begann die Geschichte der „Wunschkind­pille“1965 in Jena. In jenem Jahr brachte der Volkseigen­e Betrieb „Jenapharm“das neue Verhütungs­mittel unter dem Namen „Ovosiston“auf den Markt.

Vorausgega­ngen sei dem ein Spionagefa­ll, schreiben die beiden Autoren. Angeblich stahl ein „Kundschaft­er“des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit die Pillen-Rezeptur bei der westdeutsc­hen Konkurrenz. Belege indes fanden die Wissenscha­ftler Christian König und Annette Leo dafür nicht.

Begrenzte Wahrnehmun­g der westlichen Welt

Die Geschichte der DDR„Wunschkind­pille“

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Foto: Archiv/Waltraud Grubitzsch Dass sie als echte Wunschkind­er aufwachsen mögen ist jedem der Winzlinge zu wünschen.
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Foto: Kasper Die Wunschkind­pille von Jenapharm.

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