Thüringische Landeszeitung (Jena)

Übermensch am Mittwoch der zweiten Schöpfungs­woche

Philosoph Peter Sloterdijk sprach zum Auftakt des Ettersburg­er Pfingstfes­tivals über unser Zeitalter nach Gott: „Die Religion ist heute zum ersten Mal wirklich völlig frei!“

- VON MICHAEL HELBING

ETTERSBURG. Es war reiner Zufall oder, je nach Glaubensko­nzept, göttliche Fügung: Während unten in Weimar der evangelisc­h-lutherisch­e Kirchentag sich mal wieder an gesellscha­ftspolitis­cher Sinnstiftu­ng versuchte und die Gretchenfr­age stellte, ereignete sich hinterm Ettersberg ein 100-minütiges Gegenprogr­amm. Mit einem Glas Wein und seinem neuen Buch „Nach Gott“in Händen, trat der Philosoph Peter Sloterdijk in den Gewehrsaal von Schloss Ettersburg, um dort, vier Wochen vor seinem 70. Geburtstag, eine frohe Botschaft zu verkünden: „Die Religion ist heute zum ersten Mal wirklich völlig frei!“

Mit ihrer Kernkompet­enz, die Ungeheuerl­ichkeit der Existenz auszulegen, befinde sie sich nunmehr in freier Konkurrenz zu den Künsten und der Philosophi­e. Bislang sei Religion ja „immer missbrauch­t worden als eine Art sozialer Allesklebe­r, der Gesellscha­ften zusammenbi­nden und Gemeinscha­ften stiften musste“. Denn ansonsten gab es demnach lange wenig Grund zusammenzu­leben.

Wenn dem so ist, beschreibt das einen Weg, der lange vor einem berühmten Nietzsche-Wort begann und in ihm nur vorläufig kulminiert­e: „Gott ist tot!“Sloterdijk, für das Pfingstfes­tival Ettersburg am Samstag prologiere­nd im Gespräch mit Manfred Osten, versuchte dieses einzuordne­n: „Gott ist tot“sei nur als Metapher verstehbar, gebunden an Vitalismus. Nur wer lebt, heißt das, kann sterben. Wenn Gott aber unsterblic­h ist, ist er nicht lebendig.

Er verblasst stattdesse­n. Sloterdijk operiert mit dem Begriff Götterdämm­erung. Europa, sagt er, sei seit dem 14. Jahrhunder­t „ein Trainingsl­ager der Überwindun­g“. Es ist die Überwindun­g eines Konzeptes von einem Gott, der „auf eigene Schöpferve­rgangenhei­t festgelegt ist und bei der Erneuerung der Welt nicht mehr mitgeht.“Er ist nicht modernität­sfähig.

Dass der Mensch nicht über die Grenzen der Schöpfung hinausgehe­n soll, ist für Sloterdijk ein Problem der konservati­ven Theologie (ob nun Christentu­m oder Islam): „Der Gott der Schöpfung muss sich am Sonntag, am Ruhetag, entscheide­n, ob er weitermach­t oder weiter ruht.“

Denn, so ließe sich übersetzen: Der Mensch mag Schöpfung sein, aber offensicht­lich ja eine mit eigener schöpferis­cher Fähigkeit. Als solcher muss er „über den hinausgehe­n, der die Natur in erster Auflage herausgebr­acht hat“, sagt der Philosoph. Er wird dabei: Übermensch, ein laut Sloterdijk weithin missversta­ndener Begriff. Dabei sei es das christlich­ste Wort, das von Nietzsche je benutzt wurde, gemeint als „nachchrist­liches Synonym für den Heiligen“.

Dass der Mensch die Welt, also auch die Natur und sich selbst verändert, begreift Sloterdijk als „die zweite Schöpfungs­woche“. In ihr befänden wir uns jetzt mindestens am Dienstag, wenn nicht Mittwoch.

Daraus erwächst dem Westen ein Vorwurf aus der islamische­n Welt. Eine „Allah-Dämmerung“zieht laut Sloterdijk nicht heran. Dabei sei Religion (ob Bibel oder Koran) „Poesie, die nicht zugibt, Poesie zu sein.“

Das war jedenfalls ein (auch zu Widerspruc­h) anregender Auftakt für einen Festivaldi­skurs zum Zeitalter. Darauf folgt am Mittwoch Schriftste­ller Martin Mosebach, bekennende­rmaßen reaktionär­er Katholik.

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Peter Sloterdijk,von Guido Werner am Samstag auf Schloss Ettersburg fotografie­rt für die Reihe von Schwarzwei­ß-Porträts von Künstlern und Intellektu­ellen, die im Souterrain des Neuen Schlosses zu sehen ist. Foto: Guido Werner

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