Thüringische Landeszeitung (Jena)
Der junge Flüchtling und die Not s einer Heimat
Zu Haus e kämpfen oder an s icherem Ort leben?
Sehr geehrter Herr Moll, sehr geehrte Damen und Herren,
Sie haben einen sehr schönen Artikel über den jungen Afghanen Fayek Karimi als Rennsteigläufer geschrieben.
Danke, und das Laufen als solches ist ihm herzlich gegönnt.
Wobei, Ihr Artikel macht uns auch nachdenklich. Herr Karimi, jetzt 17 Jahre alt nach eigenen Angaben, wuchs – nach Ihrem Bericht – in bäuerlichen Verhältnissen ohne Schule auf.
Taliban nahmen vor 15 Monaten seine Heimatregion ein und sein Onkel wurde getötet. Sein Vater soll ihn dann weggeschickt haben, „an einen sicheren Ort”. Jetzt ist er in Deutschland.
Er hat keine Zeugnisse... Kann er überhaupt lesen und schreiben? Wie kann er damit in Deutschland auf eigenen Füßen stehen lernen?
Na gut, er kann laufen. Wir dagegen schicken unsere jungen Männer und Frauen seit Jahren nach Afghanistan, um Afghanistan zu einem „sicheren Ort“zu machen.
Warum schickt der afghanische Vater seine Söhne nicht auch dorthin, wo diese dafür arbeiten (und kämpfen) sollen, dass IHR Land zu einem „sicheren Ort” wird ?
Sollte der junge Herr Karimi nicht besser dort laufen, leben und arbeiten, wo seine fehlenden Zeugnisse keine Rolle spielen?!
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Dr. Hans und Dr. Ines Pistner Erfurt Liebe Leser
das sind gute Fragen, die Sie da stellen.
Mich erinnert das Schicksal des Herrn Karimi an das, was meine Vorfahren vor inzwischen 211 Jahren in der Schweiz erlebten: Bei einer Naturkatastrophe, die ein ganzes Dorf auslöschte, gehörten drei männliche Vorfahren und eine weibliche Vorfahrin zu den ganz wenigen Überlebenden.
Zur Zerstörung ihrer bäuerlichen Lebensgrundlagen und zur Trauer um Mutter beziehungsweise Ehefrau sowie die Jüngsten der Familie kam, dass sich in der Gegend wegen des entstandenen Sumpfes Malaria ausbreitete. Die junge Frau heiratete in einem Nachbardorf ein; ihr Vater und seine zwei Söhne aber verließen bald die Heimat und verdingten sich als Käser im heutigen Süddeutschland.
Folge ich Ihren Überlegungen konsequent, hätten diese drei Männer seinerzeit ihr Auskommen und Glück nicht anderswo suchen sollen. Sie hätten dort bleiben sollen, wo sie nichts mehr hatten.
Oder nehmen wir einen anderen Vorfahren meiner Familie: Wegen der Erbfolge wäre er so gut wie leer ausgegangen und hätten allenfalls der Knecht des Hoferben sein können. Arbeit gab es genug. Aber er wollte ein eigenes, kein fremdbestimmtes Leben. Also ließ er seine Heimat hinter sich, auch die Eltern, denen er nun keine Hilfe mehr sein konnte – und machte sich auf den Weg nach Amerika. Übrigens ist er dort nie angekommen, sondern hat sein Glück in Bremerhaven gemacht.
Beantwortet Fragen von Les er: Gerlinde Sommer, s tellvertret. TLZChefredakteurin
Natürlich ließe sich sagen: Das ist nicht zu vergleichen. Und der Schweizer Bergbauer von 1806 oder der arme Bauernsohn Anfang des 20. Jahrhunderts hat mit einem jungen Afghanen des Jahre 2017 nichts gemein. Das kann gut sein. Aber wenn man, wie ich, seine eigene Familiengeschichte gut kennt, dann ist einem dieses Weggehen, um es besser zu haben, vielleicht nicht so fremd.
Dass meine Verwandten in den Kriegen des 20. Jahrhunderts nicht zur Flucht gezwungen waren, nirgends vertrieben wurden, habe ich nie als selbstverständlich betrachtet. Sie lebten damals einfach an einem Ort, an dem sie bleiben durften.
Sie stellen Fragen. Ich auch. Ich würde mich freuen, wenn sich zu diesen grundsätzlichen Überlegungen auch andere Leser zu Wort melden.
Wie sehr stehen junge Menschen für ihre Heimat in der Schuld – bis hin zur Pflicht, für diese Heimat Armeedienst zu tun? Bei uns ist das ja seit einigen Jahren freiwillig. Und: Wie groß ist das Recht des Einzelnen, ein eigenes Leben an anderem Ort zu beginnen?
Wir freuen uns auf Ihre Leserpost.