Thüringische Landeszeitung (Jena)

Schleifung eines Nationalhe­iligtums

Nicht Tod und Teufel, sondern das moderne Regietheat­er hat den Salzburger „Jedermann“heimgesuch­t

- VON GEORG ETSCHEIT

SALZBURG. So einen „Jedermann“hat Salzburg noch nicht gesehen. Der zerrüttete Protagonis­t mit Schizophre­nie-Schub auf der Intensivst­ation, eine Buhlschaft ohne Sex-Appeal – und die berühmten Jedermann-Rufe, schaurige Todesverkü­ndung, schon zum Prolog des Stücks, gleichsam als Motto: Der österreich­ische Regisseur Michael Sturminger hat Hugo von Hofmannsth­als Festspiel-Dauerbrenn­er in die heutige Zeit verpflanzt und einer radikalen Neudeutung unterzogen.

Wegen eines Unwetters musste die Premiere am Freitagabe­nd dazu auch noch vom Domplatz ins Große Festspielh­aus verlegt werden. Doch das Publikum nahm die Schleifung des Nationalhe­iligtums gelassen. Riesenjube­l gab es für den neuen Jedermann, Tobias Moretti. Der Applaus für Regisseur Sturminger fiel deutlich schwächer aus, aber Buhrufe blieben aus.

Gleich zu Beginn des Abends wird klar, dass Moretti alles andere ist als ein Jedermann alter Schule. Seine Stimme klingt brüchig und verzagt, seine Beziehung zur Buhlschaft ist kühl und leidenscha­ftslos, seine Fröhlichke­it aufgesetzt. Bei der Bankettsze­ne, die eher einem Neureichen-Buffet ähnelt, hält er sich gequält die Ohren zu. An dieser Stelle ertönen sonst die Domglocken, begleitet von den Jedermann-Rufen, und künden vom nahen Tod des reichen Mannes.

Doch diesmal spielt sich das alles nur in Jedermanns Kopf ab. Man ahnt: Dieser Jedermann ist nicht von Gott und seinen Freunden, sondern von allen guten Geistern verlassen. Später liegt er in einem Krankenhau­sbett – hinten an der Kulisse der Domwand, deren Umrisse mit Neonröhren gleichsam verdoppelt sind, flackern grün die Signale eines Elektrokar­diogramms.

Sämtliche Akteure tragen in dieser Neuinszeni­erung Alltagskle­ider. Jedermanns guter Gesell, recht machohaft gespielt von Hanno Koffler, ist eine Mischung aus Kumpel und Bodyguard, der Tod ein tätowierte­s Mischwesen aus Mann und Frau, der Mammon ein goldflittr­iges Krümelmons­ter, und vom Teufel (wieder Hanno Koffler) weiß man nicht so recht, was der hier eigentlich zu suchen hat. Bühnentech­nik spielt eine wesentlich größere Rolle als jemals zuvor, auch einen Vorhang gibt es.

Die kniffligst­e Frage ist die TurboBekeh­rung des Jedermann vor dem Gang ins Grab. Sturminger bietet eine radikal säkularisi­erte Lösung: Sein Jedermann wird nicht durch den Glauben erlöst, sondern durch die Liebe, allerdings nicht die zu seiner Buhlschaft, sondern zu der Figur der Guten Werke (Mavie Hörbiger), die er erst auf dem Krankenbet­t kennenlern­t.

 ??  ?? Die Premiere fand im Saal statt: Stefanie Reinsperge­r als Buhlschaft und Tobias Moretti als Jedermann. Foto: Barbara Gindl
Die Premiere fand im Saal statt: Stefanie Reinsperge­r als Buhlschaft und Tobias Moretti als Jedermann. Foto: Barbara Gindl

Newspapers in German

Newspapers from Germany