Thüringische Landeszeitung (Jena)
Als Zeiss-Arbeiter auf die Straße gingen
Aus Jenas Geschichte:: Hunger beherrscht dieLageim Jahre1917 – In Jena will man mehr: Mehr Brot, mehr Lohn und weniger Arbeitsstunden
Sommer 1917: Das Deutsche Reich befindet sich im dritten Jahr des Ersten Weltkrieges. Die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sinkt auf einen Tiefpunkt, die Menschen gehen auf die Straße, so auch in Jena.
Was in der heutigen Wohlstandsgesellschaft kaum vorstellbar ist, war vor 100 Jahren Realität: Die Menschen im Deutschen Reich hungerten. Mancherorts protestierten sie sogar auf der Straße. Eine der Hauptursachen war die seit Kriegsbeginn im August 1914 von England verhängte Seeblockade. Mit seiner mächtigen Flotte verhinderte das Empire sämtliche Handelsimporte, die aus anderen Ländern per Schiff nach Deutschland gelangen sollten. Ein Warenaustausch mit Russland war durch den Krieg gleichfalls nicht mehr möglich. Daher sanken die Lebensmittelstandards schon ab 1915 für einen Großteil der deutschen Bevölkerung. Die Folgen dieser Entwicklung waren, dass es viele Lebensmittel offiziell nur noch rationiert per Bezugsschein gab. Hinzu kam die Zwangsbewirtschaftung und staatliche Kontrolle der Erzeuger, um unerlaubte Vorräte zu verhindern und ein möglichst gerechtes Verteilsystem zu erreichen. Bald schon kamen etliche Ersatzstoffe auf den Markt, die die Knappheit lindern sollten, in der Praxis aber meist nicht schmackhaft waren und auf Ablehnung stießen. Brot wurde mit minderwertigem Mehl gestreckt, Milch mit Wasser verdünnt und Kaffee aus Eicheln erzeugt. Bis 1918 waren etwa 11000 dieser Lebensmittelsurogate im Umlauf.
Lebensmittel auf Bezugsschein
Bataillonskommando war informiert
1917 hatte sich die Situation nochmals verschärft. Im Herbst des Vorjahres vernichtete die Kartoffelfäule etwa 50 Prozent der Ernte eines der damaligen Hauptnahrungsmittel, sodass Kohlrüben für Ersatz sorgen mussten. Der berüchtigte „Steckrübenwinter“1916/17 ging in die Geschichte ein.
Das Frühjahr 1917 offenbarte dann die Unfähigkeit des Staates, seine Bürger angemessen mit Lebensmitteln zu versorgen. Viele Kommunen gingen daher dazu über, die Lebensmittelversorgung selbst in die Hand zu nehmen. Vielerorts gab es hierbei Reibereien zwischen den Bürgern und dem „Lebensmittelamt“.
In Jena entlud sich der Protest erstmals im Juli 1917, als die hungernden Menschen vor das Rathaus zogen, um eine Verbesserung ihrer Lage zu erreichen. Am 16. Juli 1917 kam es beispielsweise zu einer „Kartoffelrevolte“auf dem Marktplatz, als einige Jenenser die schlechte Versorgung mit der Knollenfrucht monierten. Die Stadt versprach Abhilfe in Form von Brot, allerdings half dieses Zugeständnis nur wenig, denn schon am 23. Juli standen die Menschen wieder vor dem Rathaus.
Vor 100 Jahren stimmten am 25. Juli 1917 auch die Zeiss Arbeiter in den Protest ein. Zwar hatte die Firma Carl Zeiss die Versorgung der eigenen Belegschaft mit Lebensmitteln selber übernommen – so gab es in der Stadt Verkaufsstellen, im Gasthaus „Zum Löwen“wurde eine Kantine eingerichtet – allerdings reichte dies in der damaligen Situation nicht mehr aus.
Am Abend vor dem Streik traf sich eine große Menge von Arbeitern im Volkshaus und besprach dort die Ziele, die man erreichen wollte: Es sollte 20 Prozent mehr Lohn geben, überhaupt bessere Mindestlöhne, eine Herabsetzung der Arbeitszeit von zehn auf acht Stunden täglich und schließlich höhere Brotrationen. Am Tag darauf versammelte sich dann eine große Menge an Arbeitern zunächst vor dem Zeiss Werk. Anschließend zog der Protestzug weiter vor das Volkshaus und zuletzt zum Marktplatz. Die große Ansammlung von Protestlern war den Stadtoberen offenbar nicht geheuer. Für den Fall der Eskalation hatte man das hiesige Bataillonskommando informiert, um gegebenenfalls militärische Hilfe anzufordern.
Am Rathaus angekommen traten die Streikenden in Verhandlung mit den Stadtoberen, unter anderem war auch der Kartoffelmangel ein Thema. Mit einer Reihe von Zugeständnissen konnten die Arbeiter schließlich besänftigt werden und zogen von dannen.
Der Krieg ging weiter. Die Lage der Menschen verbesserte sich keineswegs und auch der Protest der Zeiss Arbeiter blieb kein einmaliges Ereignis in Jena.
Im Januar 1918 gingen sie erneut auf die Straße.