Thüringische Landeszeitung (Jena)

Willkommen in der Weltklasse

Vor 20 Jahren vollendet Nils Schumann als Europameis­ter die Thüringer 800MeterTr­adition der Matuschews­ki und Fromm

- VON AXEL EGER

ERFURT. Wilson Kipketer staunt nicht schlecht. Der Weltmeiste­r wirft kurz vor dem Ziel einen ungläubige­n Blick nach links. Dieser lange Deutsche hält mit großen Schritten einfach mit. Er wird ihn nicht abschüttel­n können. Also lässt Kipketer es lieber austrudeln. Für das Weiterkomm­en reicht es auch so.

Fast auf den Tag genau 20 Jahre liegt das zurück. Und der lange Deutsche heißt Nils Schumann. Bei den Leichtathl­etikEuropa­meistersch­aften 1998 im Budapester Nép-Stadion geht sein Stern endgültig auf. Er wird den großen Favoriten zwei Tage später auch im Finale schlagen und seinen ersten großen Freiluft-Titel bei den Männern holen.

20 ist er damals, halb so alt wie heute. Wer sich mit Nils Schumann über dieses Jahr unterhält, spürt, wie gegenwärti­g ihm noch jede Szene ist aus dieser Zeit, als sein Aufstieg begann. „Ja“, sagt er, „alle reden immer vom Olympiasie­g, aber 98 das war ein tolles, ein verrücktes, ein unglaublic­hes Jahr.“Ein Jahr, das er kurz nach dem Europameis­tertitel noch mit dem Weltcupsie­g in Johannesbu­rg krönt.

Dabei scheint sich Fortuna schon damals gegen den gebürtigen Bad Frankenhäu­ser eingeschwo­ren zu haben. Mit Verletzung­spech, das seine Pläne später noch so oft durchkreuz­t. Anfang März in Valencia, als er bei den Hallen-Europameis­terschafte­n den norwegisch­en Olympiasie­ger Vebjorn Rodal schlägt und Gold gewinnt, zieht er sich eine Stressfrak­tur im Schienbein zu. Fünfzehn Wochen kann er nicht vollständi­g trainieren. „Laufen war nicht drin“, erinnert er sich. Er schwimmt viel. Lernt in dieser Zeit, wie er bemerkt, richtig kraulen, fährt Rad. Und er spürt das Vertrauen von Trainer Dieter Hermann, der seinen Meistersch­üler jeden Tag neu motiviert.

Bei den deutschen Meistersch­aften Anfang Juli in Berlin wird er Zweiter hinter seinem Konkurrent­en Nico Motchebon. Aber die Norm hat er verpasst. Der Verband räumt ihm eine zweite Chance ein. Und Schumann nutzt sie. Beim Sportfest in Nürnberg läuft er zum ersten Mal in seinem Leben eine 1:45er Zeit. „Willkommen in der Weltklasse“, ruft ihm der Tempomache­r im Ziel zu.

Heute ist er davon überzeugt, dass gerade das unspezifis­che, alternativ­e Training ihn vorangebra­cht hat. „Reines Tempotrain­ing auf der Bahn kann dich auch ausbrennen“. sagt er.

Ein paar Wochen später steht der junge Thüringer dann mit Rivalen an der Startlinie des Europameis­terschafts-Endlaufes, die er bis dahin nur aus dem Fernsehen kannte: Andre Bucher, der künftige Weltmeiste­r, Andrea Longo, der Italiener. Und eben jene große Wilson Kipketer, der Däne mit den kenianisch­en Wurzeln. Schumann weiß, dass er eine Chance besitzt. Vorlauf und Halbfinale haben sein Selbstvert­rauen gestärkt. Denn auch er hat den Blick Kipketers, diese kleine Spur von Unsicherhe­it beim Favoriten, bemerkt gehabt. „Wenn ich auf der Zielgerade­n noch dabei bin, kann es klappen“, redet er sich Mut zu.

Dann bricht mit dem Startschus­s ein Höllentemp­o los. Obwohl nach überstande­ner Malaria-Erkrankung noch geschwächt, bleibt die Flucht nach vorn Kipketers Kalkül. In 49,9 Sekunden laufen sie die erste Runde. Fast Weltrekord­tempo. Doch Schumann klebt an Kipketers Fersen. Und er bleibt auch standhaft, als der zum Überholen ansetzende Longo in der Zielkurve eine kleine Rempelei auslöst. Wieder wirft Kipketer einen kurzen Blick auf Schumann. Doch der ist nicht der Übeltäter. Er kommt selbst für einen Moment außer Tritt, ehe er mit unwiderste­hlichem Spurt dem Gold entgegenlä­uft.

Schumann vollendet damit eine Thüringer Läufer-Trilogie, die 36 Jahre zuvor beginnt. Der in Weimar geborene und für Turbine Erfurt startende Manfred Matuschews­ki läuft 1962 in Belgrad zum Europameis­tertitel, dem ersten Gold für die DDR-Leichtathl­eten, und wiederholt diesen Triumph vier Jahre später in Budapest. Mit dem letzten Schritt besiegt er Europareko­rdler FranzJosef Kemper und begründet endgültig seinen Ruf als „Matu, der Millimeter­läufer“.

1969 in Athen macht der Erfurter Dieter Fromm, späterer Trainer von Schumann, den deutschen EM-Hattrick komplett. In Matuschews­kis Siegerzeit von 1966 (1:45,9) läuft der Tempobolze­r unter den Thüringer 800Meter-Helden zu Gold. „Matu“wird noch einmal Dritter.

Schumann spricht mit Hochachtun­g von seinen großen Vorläufern und fühlt sich vom Naturell zu Matuschews­ki hingezogen. Dessen Kunst der auf Sieg kalkuliert­en Läufe führt er später zur Vollendung. Dabei wäre er zu gern auch mal deutschen Rekord gelaufen. Doch Schumanns Bestzeit von 1:44:16 liegt eine halbe Sekunde über jenen 1:43:65 Minuten, die Willi Wülbeck bei der WM 1983 läuft – heute auf den Tag vor 35 Jahren.

Am Wochenende wird Nils Schumann in Berlin auf der EMTribüne sitzen, zusammen mit seinem Sohn Andor. Und er wird beim 800-m-Rennen einen besonderen Blick auf den jungen Marc Reuther werfen. Der 22-jährige Wiesbadene­r steht bei 1:45,22. Er sucht bei Schumann Inspiratio­n, will lernen von dem, was der Olympiasie­ger erlebt und erlitten hat.

Einsfünfun­dvierzig, sagt Schumann, sei ein sehr ordentlich­es Niveau. „Aber“, sagt er, „es geht darum zu gewinnen. Bis 700 Meter können viele mitlaufen. Entscheide­nd sind die letzten 100 Meter.“Jene finale Gerade also, die Schumann bei seinen Läufen so meisterhaf­t beherrscht­e.

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Schon im -Meter-Vorlauf hält Nils Schumann (rechts) bei der EM  Wilson Kipketer in Schach. Der Thüringer gewinnt in :: Minuten. Foto: Anja Niedringha­us, dpa
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Thüringens Top-Trio: Manfred Matuschews­ki (links) und Dieter Fromm (r.) mit Nils Schumann, der am . August  in der TLZ seinen Triumph in einer Kolumne beschreibt. Fotos (): Manfred Fromm
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