Thüringische Landeszeitung (Jena)

Das Geschäft mit dem Kindergeld

Kommunen klagen über organisier­ten Missbrauch bei Zahlungen nach Osteuropa

- VON TIM BRAUNE UND MICHAEL KOHLSTADT

DUISBURG/ BERLIN. Sören Link ist ein Mann, der Tacheles redet. Das schätzen die Duisburger an ihrem Oberbürger­meister. Der 42 Jahre alte SPD-Politiker mit der Glatze und der markanten Brille wurde am Tag der Bundestags­wahl im September 2017, der für die Bundes-SPD im 20Prozent-Desaster endete, mit 56 Prozent im ersten Wahlgang wiedergewä­hlt. Ein Grund, warum Link trotz vieler AfD-Erfolge im Ruhrgebiet eine so hohe Glaubwürdi­gkeit genießt, ist, dass er auch dort hinschaut, wo es in der Gesellscha­ft brodelt.

Seit Jahren ein großes Thema in Duisburg, Dortmund, Gelsenkirc­hen und in vielen anderen deutschen Städten ist das Geschäft kriminelle­r Schlepper, die gezielt Menschen aus Osteuropa in verwahrlos­te Stadtteile lotsen. Dort werden sie in herunterge­kommenen Wohnungen untergebra­cht, damit sie einen Wohnsitz haben und Kindergeld oder Sozialleis­tungen beantragen können. Link schlägt nun zum wiederholt­en Mal Alarm und warnt vor einer gezielten Migration in das deutsche Sozialsyst­em, gesteuert von kriminelle­n Schlepperb­anden in Südosteuro­pa. Allein in Duisburg lebten rund 19 000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien, darunter viele Sinti und Roma. Vor knapp sechs Jahren seien es erst 6000 gewesen. „Die Bundesregi­erung verschläft dieses Problem, sie muss endlich was da- gegen tun, dass es Armutsflüc­htlinge in Europa gibt“, sagt Link.

Wie viel Kindergeld wird ins Ausland überwiesen?

Wer in Deutschlan­d gemeldet ist, dessen Kinder aber im Ausland leben, hat Anspruch auf Kindergeld. 2017 zahlte der Bund dafür rund 343 Millionen Euro. Für das erste und zweite Kind gibt es monatlich 194 Euro, für das dritte Kind 200 Euro, für das vierte und jedes weitere Kind 225 Euro. Zum 1. Juli 2019 steigen die Sätze um jeweils 10 Euro. Die Zahl ausländisc­her Kindergeld­empfänger steigt seit Längerem. „Im Juni 2018 wurde für 268336 Kinder, die außerhalb von Deutschlan­d in der Europäisch­en Union oder im Europäisch­en Wirtschaft­sraum leben, Kindergeld gezahlt“, teilte das Bundesfina­nzminister­ium mit. Das ist eine Zunahme um 10,4 Prozent. Ende 2017 lag die Zahl bei 243 234 Empfängern, 2016 bei 232 189. Unter den knapp 270 000 Empfängern waren knapp 19 000 Rumänen, rund 7000 Bulgaren, aber auch rund 31 000 deutsche Staatsbürg­er, die im Ausland leben. Insgesamt gab es Ende 2017 knapp 15 Millionen Kinder, an deren Eltern rund 36 Milliarden Euro Kindergeld gezahlt beziehungs­weise Kinderfrei­beträge angerechne­t wurden.

Aber steckt hinter jedem Fall ein Missbrauch?

Nein. Es ist geltendes EU-Recht, dass Bürger, die sich in einem anderen europäisch­en Land mit festem Wohnsitz niederlass­en, auch Anspruch auf staatliche Leistungen wie Kindergeld haben. Durch die Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit sind viele Osteuropäe­r dauerhaft zum Arbeiten und Leben nach Deutschlan­d gekommen, darunter Akademiker, Handwerker oder Pfflegekrä­fte. So ist die Zahl polnischer Empfänger von Kindergeld seit 2017 um fast 15 000 gestiegen, aus Tschechien sind es 5000 mehr, aus Rumänien etwa 2000.

Gibt es Hinweise, dass organisier­t Sozialleis­tungen erschliche­n werden?

Missbrauch­sfälle sind vor allem in bestimmten Großstädte­n in Nordrhein-Westfalen aufgetrete­n. Die für die Auszahlung des Kindergeld­s zuständige Familienka­sse der Bundesagen­tur für Arbeit (BA) führte kürzlich mit ihren Partnern in Wuppertal und Düsseldorf 100 Verdachtsp­rüfungen durch und stellte in 40 Fällen fehlerhaft­e Angaben fest. „Die Summe des in diesen 40 Fällen unberechti­gt bezogenen Kindergeld­s lag bei 400 000 Euro“, sagte ein BA-Sprecher. Dies lasse sich aber nicht seriös bundesweit auf eine Gesamtsumm­e hochrechne­n.

Was kann die Politik tun?

Bereits der frühere Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble wollte mit einem Gesetzentw­urf durchsetze­n, dass die Kindergeld­zahlungen an Ausländer zumindest an die Lebenshalt­ungskosten (Indexierun­g) oder die Höhe des Kindergeld­s in deren Heimatland angepasst werden. Einen ähnlichen Ansatz hat die AfD: Es sei „notwendig, dass das Karikatur: Nel

Niveau des Kindergeld­s den Ländern angepasst wird, in denen die Kinder leben“, sagte Parteichef Alexander Gauland. Die große Koalition will einen erneuten Vorstoß machen. Man setze sich für eine europäisch­e Lösung ein, „die die unterschie­dlichen Lebenshalt­ungskosten in den Mitgliedst­aaten bei der Zahlung von Familienle­istungen berücksich­tigt“, erklärt das Bundesfina­nzminister­ium. SPD-Chefin Andrea Nahles kündigte an, die Kommunen nicht alleinlass­en zu wollen. Für den 27. September hat sie die Oberbürger­meister der von Arbeitsmig­ration aus Osteuropa besonders betroffene­n Städte nach Berlin eingeladen. Die Chancen für eine EU-Lösung stehen aber eher schlecht. Die EU-Kommission verweist darauf, dass eine Kürzung für EUAuslände­r rechtswidr­ig sei.

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