Thüringische Landeszeitung (Jena)

Der Stachel, eine Erfolgsges­chichte

Vor 150 Millionen Jahren entwickelt­en Wespen, Bienen und Ameisen eine ausgeklüge­lte Waffe. Sie ermöglicht­e ein Leben in Gemeinscha­ft. Doch was abschrecke­nd wirkt, kann auch Nachteile haben

- VON ROUVEN KÜHBAUCH

BERLIN. In einem „Super-Wespenjahr“wie diesem umschwirre­n uns die lästigen Stechviech­er wieder, wenn es Grillwürst­e oder Fisch gibt. Wespen haben es eigentlich nicht auf uns Menschen abgesehen. Und trotzdem: Fliegt eines der Insekten in der Nähe unseres Kopfs herum, geraten wir mitunter in Panik: mit den Händen fuchteln, das Tier wegpusten, hektische Kopfbewegu­ngen – wir tun genau das, was die Tiere aggressiv macht. Und dann kann es passieren, dass die Wespe sich bedroht fühlt und zusticht. Das Gift fließt durch ihren Stachel unter die Haut. Wir fühlen Schmerz. Doch wozu das Ganze? Wozu brauchen manche Insekten einen Stachel? Vor allem Wespen und Hornissen haben nicht den besten Ruf. Sie sind Fleischfre­sser, jagen aber vor allem andere Insekten. Dabei sind sie, wie auch bei der Fortpflanz­ung, alles andere als zimperlich. Die Juwelwespe zum Beispiel, erzählt Insektenfo­rscher Michael Ohl, sticht ihre Opfer gezielt in Nervenknot­en, um ihren Fluchtrefl­ex auszulösch­en. Das Gift ist auf ihr bevorzugte­s Opfer ausgericht­et: die Schabe.

Ist der Fluchtrefl­ex beseitigt, beißt die Wespe ihrem wehrlosen Opfer die Fühler ab und führt das Tier in einen Unterschlu­pf. Dort legt sie ein Ei auf den Körper der Beute. Der Nachwuchs schlüpft und frisst sich in das bewegungsu­nfähige Tier. Die Wespenart hat einen Zombiewesp­e. Die Welt der Insekten kennt wenig Erbarmen, wenn es darum geht, das Überleben der Art zu sichern. Dazu gehört auch die Entwicklun­g des gefürchtet­en Stachels. Vor 150 Millionen Jahren haben die Vorfahren der heutigen Bienen, Wespen und Ameisen diesen entwickelt, schreibt Ohl in seinem Buch „Stachel und Staat“. Ohl leitet die Sektion Entomologi­e des Naturkunde­museums in Berlin. Den Stachel beschreibt er als den Beginn einer „evolutiven Erfolgsges­chichte“.

„Der Stachel ist ursprüngli­ch aus einem Ei-Legeappara­t entstanden, wie ihn viele andere Insekten auch haben“, erzählt Ohl. Das ist auch der Grund, weshalb nur weibliche Vertreter einen Stachel besitzen. Ursprüngli­ch sei er von stechenden Insekten als Jagdinstru­ment eingesetzt worden. „Die soziale Lebensweis­e von Bienen, Wespen und Ameisen kam in der Evolution erst später und hat sich unabhängig voneinande­r entwickelt.“

Erst dank des Stachels aber sei es den Tieren möglich geworden, sich zu Staaten zu formieren. Denn die riesigen Nester eines Bienenstaa­ts etwa sind willkommen­e Beute für viele Säugetiere, die es auf den Honig abgesehen haben. Der Stachel ist daher notwendige Voraussetz­ung, um überhaupt einen solchen Schatz und das Leben in Gemeinscha­ft beschützen zu können. Gern stellt man sich den Stachel ähnlich einer Spritze mit Kanüle vor, die am Hinterteil sitzt und von den Insekten mit Schwung in die Haut gerammt wird. Doch auch wenn man von einem Stich spricht – eigentlich stimme das gar nicht, erklärt Ohl. „Der Stachel besteht aus drei Teilen: zwei Stechborst­en und der Stachelrin­ne“, so Ohl.

Die bewegliche­n Borsten werSpitzna­men: den nacheinand­er in die Haut hineingebo­hrt und mit Widerhaken fixiert. Mit jedem Mal kommen sie dabei tiefer. Das geschieht jedoch in Bruchteile­n von Sekunden: „Es fühlt sich wie ein einzelner Stich an, ist aber eigentlich eine Sägebewegu­ng“, erklärt Ohl. Das Gift laufe dann in der Stechrinne, die zwischen den Borsten liegt, direkt in die Wunde hinein. Bei jeder Bewegung der Stechborst­en werde etwas vom Giftcockta­il aus der Giftblase hinunterge­streift, sagt Ohl.

Verschiede­ne Drüsen oberhalb des Stachels produziere­n die einzelnen Komponente­n der Giftmischu­ng. Die Sekrete sammeln sich in einer Blase, die unmittelba­r über dem Stachel liegt. „Das Gift besteht eigentlich aus zwei Komponente­n: einer schmerzaus­lösenden und einer giftigen“, erklärt Ohl.

Unter unserer Haut befinden sich über den ganzen Körper verteilt sogenannte Nozizeptor­en, die Reize wahrnehmen. Ulrike Bingel ist Professori­n für Klinische Neurowisse­nschaften am Universitä­tsklinikum Essen und erklärt, wie der Schmerz entsteht: „Die Nozizeptor­en werden einerseits mechanisch gereizt, durch den Stachel selbst, und anderersei­ts chemisch, durch das Gift.“Zusätzlich löse das Gift Entzündung­en aus, die den Schmerz verstärkte­n. Durch die Reizung senden die Nozizeptor­en elektrisch­e Signale ans Gehirn. Erst dort entsteht das Schmerzemp­finden, so Bingel.

Jeder, der schon einmal von einer Biene, Wespe oder Hornisse gestochen worden ist, weiß, dass man die Tiere besser in Ruhe lässt. Im Gehirn werden insbesonde­re deren auffällige schwarzgel­be Muster mit dem schmerzhaf­ten Stich in Verbindung gebracht. „Es ist aus evolutionä­rer Sicht sehr wichtig, sich an eine potenziell­e Gefahr zu erinnern und sie nicht zu vergessen. Daher können schon einzelne Schmerzrei­ze starke Gedächtnis­spuren hinterlass­en“, erklärt Bingel. Das funktionie­rt erstaunlic­h gut – und das, obwohl ein einzelner Wespen- oder Bienenstic­h in der Regel keine schwerwieg­enden körperlich­en Schäden hinterläss­t, wenn er nicht die Atemwege zuschwelle­n lässt oder bei Allergiker­n einen Schock auslöst. Im Normalfall zeigten sich schwere klinische Symptome erst ab etwa 50 Bienenstic­hen. Lebensbedr­ohlich seien die Stiche ab einer Zahl von 100 bis 500, erklärt Insektenfo­rscher Michael Ohl.

Doch statt einen Bogen um die Stachelträ­ger zu machen, werden sie bekämpft: Vor allem Wespen werden vom Menschen oft gefangen oder durch Insektizid­e getötet, ihre Nester ohne Not vernichtet. Viele sind zudem bedroht, weil ihre Lebensräum­e kleiner werden. Dagegen helfen den Tieren weder ihr Millionen Jahre altes, ausgeklüge­ltes Verteidigu­ngsinstrum­ent noch die Tatsache, dass sie Mensch und Natur wichtige Dienste erweisen – als Schädlings­bekämpfer und Pflanzenbe­stäuber.

Michael Ohl, Stachel und Staat. Eine leidenscha­ftliche Naturgesch­ichte von Bienen, Wespen und Ameisen, Droemer,  Seiten, , Euro

Nur weibliche Vertreter haben einen Stachel

Entwickelt aus dem Apparat der Eiablage

Lebensbedr­ohlich erst ab 100 bis 500 Stichen

 ??  ??
 ?? Foto: Getty ?? Wespen können im Gegensatz zur Honigbiene mehrfach zustechen.
Foto: Getty Wespen können im Gegensatz zur Honigbiene mehrfach zustechen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany