Thüringische Landeszeitung (Jena)

Geheimer Sieger der OB-Wahl

Sommergesp­räch:: Künftigen Stadtentwi­cklungsdez­ernenten Christian Gerlitz (SPD) reizt Größe der Herausford­erung

- VON THOMAS STRIDDE

JENA. Als „geheimen Sieger der Oberbürger­meisterwah­l“hat ein Redaktions­kollege den SPDStadtra­t Christian Gerlitz bezeichnet. – Stimmt. Irgendwie. Der Job des Stadtentwi­cklungsdez­ernenten, im Zusatzamt Bürgermeis­ter und somit Vize-OB – das ist doch was.

Im Moment, da die Jenaer SPD Ende April die krachende OB-Stichwahl-Niederlage ihres Amtsinhabe­rs Albrecht Schröter noch zu schlucken hatte, reichte Gerlitz dem Neu-OB Thomas Nitzsche (FDP) schon die Hand. Schnell war die CDUSPD-Günen-Koalition beerdigt und eine andere Mehrheit für die nahe Dezernente­n-Neuwahl im Stadtrat organisier­t. Und siehe, Christian Gerlitz darf im Februar die Nachfolge des bündnisgrü­nen Stadtentwi­cklungsdez­ernenten Denis Peisker antreten.

Was trieb, was treibt den 36jährigen Wirtschaft­sinformati­ker an, der seit 2014 für die SPDFraktio­n im Stadtrat sitzt und ihr zuvor fünf Jahre als beratender Bürger gedient hatte, nachdem er – der Geraer – 2001 wegen des Studiums nach Jena gekommen war? Bemerkensw­ert: Thomas Nitzsche hatte in seinem Wahlkampf die Jenaer Groko und Albrecht Schröter an einer Flanke besonders angegriffe­n – beim fehlenden Tempo der Stadtentwi­cklung. Christian Gerlitz muss das schon als Groko-Mitglied ähnlich gesehen haben, weil er von einem Initial-Doppelerle­bnis zu berichten hat. Beim ersten Jenaer IT-Gipfel war Gerlitz vor einigen Jahren als Aufsichtsr­at der städtische­n Wirtschaft­sförderung­sgesellsch­aft vertreten – und höchst erstaunt, wie er im Zeitungsge­spräch sagt: Während eigentlich digitale Strukturen und Visionen erörtert werden sollten, „wurde zu 50 Prozent über Stadtprobl­eme geredet“. Und zwei Jahre später beim 2. Jenaer IT-Gipfel „wurde nur noch über Stadtentwi­cklung in zunehmend frustriert­em Maße gesprochen“. Für Gerlitz selbst jedoch wurde es zunehmend klar: „In Jena Stadtentwi­cklungsdez­ernent sein zu können, ist eine der Positionen mit den größten Gestaltung­smöglichke­iten in ganz Ostdeutsch­land.“Tatsächlic­h habe ihn „die Größe der Herausford­erung gereizt“, wenn man sich nur vor Augen halte, dass in Jena in den nächsten zehn Jahren 3 Milliarden Euro investiert werden sollen.

Und so gibt‘s von Gerlitz auch kein großes Lamento um die beerdigte CDU-SPD-Grünen-Koalition. „Es ist müßig, darüber zu reden.“Im Einzelfall möge es schnellere Verwaltung­sentscheid­ungen gegeben haben per Koalitions­mehrheit. Aber gesellscha­ftliche Akzeptanz? Vielleicht sei es nicht immer richtig, die andere – die opposition­elle Sicht – auszublend­en. Wiederum habe die Koalition „ein schönes Feindbild“dargestell­t bei Entscheidu­ngen, die einem nicht gefallen. „Als Opposition konnte man von vornherein dagegen sein. Ohne Koalition gibt es diese Art Entscheidu­ngen nicht mehr.“

Manche Entscheidu­ng möge künftig auf den ersten Anschein hin nicht so schnell fallen. Doch hat Gerlitz im Blick, wie etwa in Zwätzen oder Burgau die Anwohnersc­haft gegen Wohn-Bebauungsp­läne aufbegehrt­e. „Hier gibt es zunehmend Probleme, Akzeptanz zu finden. Ich kann versuchen, davor die Augen zu verschließ­en. Oder ich öffne mich dem.“Vom 1. Februar an werde er „ganz klar“mit den Ortsteilbü­rgermeiste­rn Stadtrundg­änge organisier­en, um nach Problemen zu fahnden. Ihm liege es am Herzen, in sehr frühen Planungsst­adien „digitale Modelle“zu integriere­n. „Das ist ein Mega-Schlagwort in der Bauwirtsch­aft“, sagt Gerlitz, der im Hauptberuf Technische­r Leiter des Bildungswe­rks Bau Hessen-Thüringen ist. So ließen sich viel eher rechtliche und sonstige Bedenken berücksich­tigen.

Wohnungsma­rkt, Gewerbeflä­chen-Suche, Verkehrs- und Mobilitäts­infrastruk­tur – das sind für ihn die Themen, die er „schnell anfassen“will.

Der erneuerung­sbedürftig­e rechtliche Rahmen für all dies – der Jenaer Flächennut­zungsplan – ist dem SPD-Mann ein wahres Reizobjekt. Für die letzte Überarbeit­ung habe es sechs Jahre gebraucht. Und es mehrten sich die Anzeichen, dass diesmal noch mehr Zeit vonnöten sei, berichtet Gerlitz. „Die Zeit haben wir aber nicht.“Rasch gelte es, das Maß der Potenzialf­lächen für Wohnen und Gewerbe zu erhöhen. „Für die einseitige Verdichtun­g gibt es keine Akzeptanz, und es wird auch nicht reichen.“Er sehe zum Beispiel landwirtsc­haftliche Nutzfläche­n auf dem Stadtgebie­t, „die wenig Erholung und ökologisch­en Nutzwert bieten.“

Nun ja, man sehe an all dem, dass das Bürgermeis­teramt nach dem Ruhestands­eintritt des Sozialbürg­ermeisters Frank Schenker (CDU) nicht von ungefähr zur Stadtentwi­cklung wechselt. „Die großen Aufgaben stehen in diesem Dezernat an. Man kann auch sagen: Das Maß der Jugendplan-Förderung und der freiwillig­en Leistungen lässt sich nur bewahren, wenn wir auf dem Wirtschaft­swachstums­pfad nachhaltig weitergehe­n,“

Wegen Stadtentwi­cklung zunehmend frustriert

Gemischte Nachbarsch­aft in der gesamten Stadt

Auf die Wohnbau-Perspektiv­en schaut Christian Gerlitz „nicht nur quantitati­v“, wie er sagt. „Da wird man klar den Sozialdemo­kraten erkennen. Ich glaube an sozialen Wohnungsba­u. Er ist wichtig, um über die Gesamtstad­t verteilt gemischte Nachbarsch­aften zu bekommen.“Und so erfülle es ihn mit Genugtuung, dass der 150-Wohnungen-Neubau in der Karl-Liebknecht-Straße zur Hälfte mietpreisg­ebundene Angebote beinhalten wird. Natürlich müsse allen klar sein, dass es sozialen Wohnbau nicht umsonst gebe; da gelte es, auf bestimmte Einnahmen zu verzichten. Den Eigenheim-Bedarf jedoch werde Jena nicht allein in seinen Ortsteilen realisiere­n können. Hier müssten die Fachleute des Umlands und der Stadt früh ins Gespräch kommen. Bei Schlagwort-Fragen wegen des zugehörige­n Verkehrs – S-Bahn zwischen Camburg und Kahla; Straßenbah­n gen Wogau und Großlöbich­au? – zuckt Christian Gerlitz nicht lange. „Auf jeden Fall!“

Wie steht er zu der seit Jahren ungeklärte­n Radweg-Über- oder Unterführu­ng an der Westseite der Camsdorfer Brücke? – Ihn ärgere, dass die Abwägung immer noch „politisch“etikettier­t ist. Klar habe die Verkehrsbe­hörde gutachterl­ich ermittelt, dass die überirdisc­he Lösung nicht genehmigt werden kann. Also bleibe allein die Führung durch den Naturschut­z-Raum unterm westlichen Brückenbog­en – die gutachterl­iche Eindeutigk­eit sei hier auch die einzige Grundlage für den Eingriff in den Naturschut­z.

Setzt ein Gerlitz also auch Strittiges durch? Er sei sehr offen für unterschie­dliche Meinungen und insbesonde­re für fachliche Expertise. „Auf der anderen Seite – wenn ich zu einer klaren Meinung gekommen bin, dann setze ich sie auch mit großen Nachdruck durch.“

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Foto: Thomas Stridde Christian Gerlitz (SPD), designiert­er Stadtentwi­cklungsdez­ernent und Bürgermeis­ter.

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