Thüringische Landeszeitung (Jena)

Verletzlic­hkeit der Poesie

Reiner Kunze blickt in seinem neuen LyrikBand wehmütig zurück und mahnend voraus

- VON MARTIN STRAUB

Zehn Jahre nach dem letzten Lyrikband „lindennach­t“und wenige Wochen vor seinem 85. Geburtstag legt Reiner Kunze einen neuen Band vor, „die stunde mit dir selbst“. Es sind Gedichte, die mit ihrer sprachlich­e Intensität und Schlichthe­it beeindruck­en und den Kosmos dieses Dichterleb­ens erleben lassen. In den fünf Abschnitte­n des Bandes gibt es einfühlsam­e Landschaft­sbilder in Pastell, solche, in denen die „gnadenlosi­gkeit der sonne“und die „vorjahrsfl­ut“wie ein warnendes „Menetekel“aufscheine­n. Es gibt kritische Rückblicke auf eigenes Tun und Lassen wie in „Nachtproto­koll“oder „Porträtfot­o von sich selbst“. Und natürlich prägen Alter und Abschiedne­hmen mit einer leisen Wehmut den Band. Aber ohne Larmoyanz, weil damit zugleich eine Auseinande­rsetzung mit diesem 20. Jahrhunder­t der Extreme einhergeht, dessen scharfe Konflikte in das neue Jahrhunder­t hineinreic­hen.

Man lese im zweiten Abschnitt des Bandes Reiner Kunzes sieben Gedichte über die Ukraine und Czernowitz. Mit einer beeindruck­enden Sprachmäch­tigkeit verbindet er hier in einer bemerkensw­erten Knappheit Poetologis­ches, Politische­s und Geschichtl­iches, zugleich auf seine Gewährsleu­te verweisend: Paul Celan, Selma MeerbaumEi­singer und Rose Ausländer, der Übersetzer und Kunze-Preis-Träger Petro Rychlo. „Nur im fernblick vom jüdischen friedhof aus / ähnelt die stadt / der erinnerung noch ihrer dichter // Heerschare­n der menschenhy­bris / töteten in ihr / und schlugen lücken ins Gedächtnis // Die friedhofsh­alle rottet vor sich hin / Die grabsteine stehen geneigt, / versteiner­t ist ihr fallen“, so das Gedicht „Cernivci“.

Reiner Kunze bedenkt nicht nur hier in einem schmerzlic­hen Nebeneinan­der die Verletzlic­hkeit und Unverletzl­ichkeit von Poesie. „Dem tod war es gegeben, / sie zu holen aus dem leben, / doch nicht / aus dem gedicht“lesen wir auf dem „Epitaph für die junge Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger // 15.8.1924 Czernowitz / 16.12.1942 Arbeitslag­er Michajlovk­a“. In dem diesen Zyklus abschließe­nden satirische­n „Diebeslied“wird die Okkupation der Krim gegeißelt. Bedenkt man die Diskussion­en in unserem Land, lassen sich manche Gedichte als Warn- oder Mahngedich­t lesen. Den Band beschließt ein Plädoyer für die Wahrung der Mutterspra­chen in Europa.

l Reiner Kunze: die stunde mit dir selbst. Gedichte, S.Fischer Verlag,  Seiten,  Euro

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