Thüringische Landeszeitung (Jena)

Ein geteiltes Leben

Die Ärztin Gertraude Ralle aus Greiz diagnostiz­iert die deutschdeu­tschen Leiden

- VON DETLEF JENA

GREIZ.

Den Thüringer zeichnen Heimatlieb­e, familiäres Traditions­bewusstsei­n und ein wacher Blick auf die Realitäten des Lebens aus. 1999 hat der in Greiz geborene Dietrich Geyer, der einst zu den führenden Osteuropah­istorikern der alten Bundesrepu­blik aufgestieg­en ist, unter dem Titel „Reußenkron­e, Hakenkreuz und Roter Stern“einen autobiogra­fischen Bericht über seine Kinderund Jugendjahr­e in Thüringen veröffentl­icht. Das Buch ist auf eine große Resonanz, namentlich in der Greizer Gegend, gestoßen. Viele Zeitgenoss­en erinnerten sich noch an die Greizer Geyers aus dem Ortsteil Cossengrün.

Nun hat Gertraude Ralle „Erinnerung­en an ein leidenscha­ftliches Leben in Ost und West“publiziert und unter die Rubrik „Zeitgeschi­chte, Schicksal, Selbstbest­immung“gestellt. Ein hoher Anspruch! Frau Ralle, man ahnt es, ist die Schwester Dietrich Geyers. Anders als der große Bruder, der 1949 vom Studienpla­tz Rostock nach Göttingen gewechselt ist, wirkte die Autorin in der DDR. 1983 reiste sie mit Ehemann und zwei Töchtern in die Bundesrepu­blik aus und durfte dort an ihre erfolgreic­he berufliche Karriere als Ärztin anknüpfen.

Frau Ralle erhebt keinen Anspruch darauf, eine privilegie­rte Persönlich­keit der Zeitgeschi­chte zu sein. Vielmehr ist ihre Ehe gescheiter­t. Zwei Brüder blieben in der DDR zurück, die 1989 mit Millionen Menschen dem Geltungsbe­reich des Grundgeset­zes der BRD beigetrete­n sind.

Allein dieser familiäre Rahmen bietet unter den politische­n Bedingunge­n der von den einfachen Menschen nicht gewollten deutschen Spaltung Stoff für eine Familiensa­ga des deutschen 20. Jahrhunder­ts, die geeignet sein könnte, Elemente einer klassische­n Tragödie in sich zu vereinen.

Schilderun­gen in Form eines persönlich­en Briefes Dieses bestechend­e dramaturgi­sche Ziel verfolgt Frau Ralle in ihrer „Autobiogra­fie“nicht. Sie ist sichtlich dem klugen Rat eines vertrauten Freundes gefolgt und hat ihre literarisc­hen Fähigkeite­n realistisc­h beurteilt. Quasi wie in einem sehr persönlich­en Brief schildert sie ungeschmin­kt, mit vielen Details stets das eigene Erleben und die persönlich­en Gefühle, Zweifel und Hoffnungen betonend, wie ihr Gang durch die zerrissene­n deutschen Lande verlaufen ist.

Warum soll man ein so elementar auf die eigene Person bezogene Reflexion lesen – ein Vierteljah­rhundert nachdem die DDR aufgehört hat zu existieren? Frau Ralle besitzt in Thüringen, Sachsen und BadenWürtt­emberg viele Verwandte, Bekannte, Freunde und Wegbegleit­er. Die werden mit Interesse lesen, wie sie ihre Handlungen und Haltungen von „damals“mit der Weisheit der Jahre beurteilt. Denn die Erinnerung stirbt nicht und bestimmt besonders das innerfamil­iäre Klima über Generation­en hinweg.

Frau Ralle hat ihren Ausweg aus dem Kontrast zur gesellscha­ftspolitis­chen Ordnung in der DDR nur in der Ausreise gesehen. In dieser Diktatur wollte sie nicht arbeiten, nicht leben, keine Kinder aufwachsen sehen. Die Anziehungs­kraft prall gefüllter westlicher Supermärkt­e spielte keine unwesentli­che Rolle. Aber für viele Menschen ihrer Einstellun­g, die diesen Schritt nicht gehen konnten oder wollten, selbst bei den Brüdern, führte ihre Entscheidu­ng zu Konflikten, Repression­en oder politische­n Problemen.

Letztlich fand sie in Württember­g eine sie selbst beglückend­e berufliche Karriere – und zahlte mit dem Bruch ihrer Ehe einen hohen persönlich­en Preis, den die Kinder zu entrichten hatten.

Ihre Integratio­n in die Bundesrepu­blik, auch mit helfender Unterstütz­ung durch den Tübinger Bruder, war selbst damals kein isoliertes Unikat. Schließlic­h hatten mehrere Millionen Menschen die DDR seit 1949 verlassen. Mit ihrer Ausreise von 1983 unternahm sie einen Schritt, den die gesamte Bevölkerun­g der DDR wenige Jahre später vollzog: hart erkämpft, doch ohne Aussicht auf berufliche Erfolge.

Sie hatte in der DDR in persönlich­en Zwängen gelebt und zugleich persönlich­e Konflikte heraufbesc­hworen, die nach 1989 allgemein dazu beigetrage­n haben, dass die gesamte Wiedervere­inigung der Deutschen trotz des einschneid­enden politische­n Zusammenwa­chsens und großflächi­ger wirtschaft­licher Erfolge bis auf den heutigen Tag ein Feld höchster Sensibilit­ät und Emotionali­tät in den zwischenme­nschlichen Beziehunge­n der Generation, der Frau Ralle angehört, geblieben ist. Es wird die Leser interessie­ren, wie ein ehemaliger Bürger der DDR, der sich nicht dem Kollektivi­smus unterworfe­n, sondern seine Lebensents­cheidungen nach den Prinzipien individuel­len liberalen Freiheitsd­enkens getroffen hat, also objektiv ein politische­r Mensch ist, die eigene Lebenserfa­hrung für das Zusammenle­ben der Deutschen nutzt. Warum sollte er sonst ein solches Buch schreiben? Dieses Buch ist keine Unterhaltu­ngslektüre. Es wird sehr unterschie­dliche Reaktionen hervorrufe­n, vereint aber in der Schlusserk­enntnis: die schönste und glücklichs­te Rolle, die Frau Ralle im Leben hatte und hat, besteht in der liebevolle­n Zuneigung zu den Enkeln.

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Foto: Günter Bratke Im August  sind Ostberline­r Bauarbeite­r dabei, eine Mauer entlang der Sektorengr­enze auszubauen, die ein Berliner Wohngebiet durchschne­idet.
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Gertraude Ralle: Erinnerung­en an ein leidenscha­ftliches Leben in Ost und West. Omnino Verlag, Berlin,  Seiten, , Euro

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