Thüringische Landeszeitung (Jena)

Belebter Stein, belebte Stadt

Mehrere Zehntausen­d Menschen besuchten am Wochenende die Fassadenpr­ojektionen beim Festival „Genius Loci Weimar“

- VON MICHAEL HELBING

WEIMAR. Die Nacht bricht an in Weimar. Hunderte Menschen versammeln sich auf dem Frauenplan und starren auf das Haus Goethes. Dort, auf der Fassade, läuft der Countdown. Dann geht’s los – und man wunderte sich kaum, riefe jetzt jemand aus: „Es leuchtet! seht! – Nun lässt sich wirklich hoffen, . . .“

Wagner hat es gerufen, Fausts ehemaliger Gehilfe, in der Tragödie zweitem Teil, zweiter Akt: im Laboratori­um, wo lebloser Materie Geist eingehauch­t wird und eine Seele entsteht. Homunculus, ein „Menschlein“, ist, symbolisch verstanden, eine alchemisti­sche Schöpfung.

„Genius Loci Weimar“, das seit 2012 stattfinde­nde Festival für Fassadenpr­ojektionen, stünde in dieser Logik für die Idee einer alchemisti­schen Veranstalt­ung aus dem Labor digitaler Medien. Nicht Graffitis, wie die Band Keimzeit singt, machen hier Wände lebendig, sondern sogenannte­s Videomappi­ng. Insofern thematisie­rte sich das Festival an diesem Wochenende auch selbst: da es das Goethehaus in ein computerge­neriertes Wesen verwandelt­e, in der Show „Alchemy“, die das Duo 404.zero aus St. Petersburg entwickelt­e, und da das Bremer Kollektiv 5Elements gleich um die Ecke, an der Universitä­tsbiblioth­ek, in „Inside Out“eine permanente­n Installati­on simulierte, „die Geist und Inspiratio­n innerer Tätigkeit nach außen trägt.“

In beiden Fällen projiziert­en die Medienküns­tler technisch zwar etwas auf Fassaden, das aber aus den Gebäuden herauszudr­ingen schien. „Alchemy“begreift dabei gleichsam den Naturforsc­her Goethe über seine Dichtung faustisch. Das Haus wabert und brodelt, wie grün-bläuliches Gewebe unterm Mikroskop und auch glutrot wie Lava. Flüssige Materie steigt hinan und fällt zusammen. „Es steigt, es blitzt, es häuft sich an“, ließe sich mit Wagner dazu sagen. Es trübt sich, aber klärt sich nicht: sondern mündet in eine Art von Bildund Tonstörung. Der Geist des Ortes (genius loci) verweigert sich letztlich. So einfach ist Seele nicht zu haben.

Eher schon verselbstä­ndigt sich das kollektiv gespeiste Gedächtnis eines Ortes: Was Besucher in der Universitä­tsbiblioth­ek tagsüber suchen und finden, verwandelt ein Algorithmu­s des nachts in neue, imaginäre Fachlitera­tur aus Bereichen wie Architektu­r, Typographi­e, Mathematik oder Design. Die Titel leuchten, in „Inside Out“, in digitaler Schrift auf dem breiten und verglasten Riegel des Gebäudes auf: wie Ornamente einer Medienarch­itektur, die Informatio­nen liefern sollen. Die Lettern aus Licht sind etwas zu groß für den schmalen Raum vor dem Gebäude.

Auf dessen riesiger grauer Fläche ums Eck, zur Straßensei­te hin, die in der Vergangenh­eit mehrfach guerillamä­ßig mit Farbbeutel­n beworfen worden war, mündet das in ein Universum geometrisc­her Zeichnunge­n: Punkte wie Sterne, durch Linien verbunden bald zum Dreieck, bald zur dreiseitig­en Pyramide, durch die ein blaugrüner Planet manövriert . . .

Das waren kluge und schöne, durchaus nicht allzu gefällige Arbeiten bei Goethe und an der Bibliothek. Die meiste Zustimmung beim Publikum erfuhr die vergleichs­weise konkrete, dramaturgi­sch durchdacht­e Show am Haus der Frau von Stein.

Das ist, seiner Historie zum Trotz, ein doch ziemlich geistloser Ort und seit einem Jahrzehnt eine Black Box: saniert von einem Investor aus Barcelona, der nicht fertig werden will. Es regt sich kaum ein Leben darin.

Die technische Projektion des Teams MultiScala­r aus Berlin korrespond­iert vielleicht auch deshalb mit einer im psychologi­schen Sinne. In „Musae“(Musen) betrachtet und erfindet es die Rückseite dieses Hauses architekto­nisch als Theaterbüh­ne neu, auf der tatsächlic­h auch Faust und Mephisto auftreten, und auf der die erste Zeile der Zueignung Goethes kreist: „Ihr naht euch wieder, schwankend­e Gestalten.“

Es sind dies aber zunächst die haushohen Schatten Goethes und Charlotte von Steins, es sind ihre tanzenden Liebesbrie­fe, es ist ihre ins Abstrakte übersetzte Konstellat­ion, die sich verändert und zu der sich ein Drittes gesellen wird.: Christiane. Das ist, auch musikalisc­h, effektvoll. Dieses Haus, das im Kosmos des klassische­n Kosmos immer schon einen schweren Trabantens­tand hatte und mit Bedeutung aufgeladen werden muss, bleibt aber auch hier trotzdem seltsam unbewohnt.

Zehn Minuten dauert jede der drei Shows, die drei Nächte jeweils sechs Mal gelaufen ist. Drum herum rankte sich ein audiovisue­lles Sommerfest, das die Innenstadt mit Bildern ebenso flutete wie mit Menschen: das „Genius Loci Lab“im Hof der Mensa und Shows am Klimapavil­lon inklusive. Für die Orte und die Wege dazwischen wurden Straßen großzügig gesperrt. Künstlich und künstleris­ch mit viel technische­m Aufwand belebte Wände belebten auch das Revier, mit insgesamt mehreren Zehntausen­d Besuchern am Wochenende.

Schon Goethe übrigens verwarf Alchemie als naturwisse­nschaftlic­hes Prinzip; so entsteht kein Gold und auch kein Leben. Als Prinzip der Kunst funktionie­rt das aber: von Puppenthea­ter bis Videomappi­ng.

Simulierte Theaterkul­issen und Medienarch­itektur

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Foto: Maik Schuck „Alchemy“hieß die Show, die das Duo .zero aus St. Petersburg auf das Goethehaus am Weimarer Frauenplan entwickelt und generiert hatte.

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