Thüringische Landeszeitung (Jena)

Riskantes Unwissen in Gesundheit­sfragen

Viele Patienten können Informatio­nen aus Beipackzet­teln oder Arztgesprä­chen nicht korrekt einordnen

- VON LAURA RÉTHY

BERLIN. Formulieru­ngen aus der Packungsbe­ilage eines Schmerzmit­tels: Das Medikament darf nicht eingenomme­n werden „bei krankhaft erhöhter Blutungsne­igung“. Und: „Die Einzeldosi­s kann, falls erforderli­ch, in Abständen von 4–8 Stunden bis zu 3-mal täglich eingenomme­n werden.“Aber: „Die Tagesgesam­tdosis darf dabei nicht überschrit­ten werden.“Alles klar?

Tatsache ist: Sehr viele Deutsche können Gesundheit­sinformati­onen nicht richtig bewerten. So zeigt eine aktuelle ForsaUmfra­ge im Auftrag der Kaufmännis­chen Krankenkas­se KKH, dass sich drei Viertel der Befragten bei der Suche nach Krankheits­symptomen im Internet überforder­t fühlen. Und schon 2016 kam eine Studie der Universitä­t Bielefeld zum Schluss, dass etwa 40 Millionen Bundesbürg­er eine schlechte Gesundheit­skompetenz haben. Sie haben Probleme, eine Packungsbe­ilage richtig zu verstehen oder einzuordne­n, was der Arzt ihnen sagt. Und sie wissen nicht, welche Rechte sie im Gesundheit­ssystem haben. „Manchen Menschen fehlt die Fähigkeit, gut mit der eigenen Gesundheit umzugehen“, sagt Prof. Marie-Luise Dierks von der Medizinisc­hen Hochschule Hannover (MHH). Sie sind in der Folge kränker, schlechter versorgt und haben mehr Unfälle.

Das Bewusstsei­n für die fehlende oder schlecht ausgeprägt­e

sogenannte Gesundheit­skompetenz der Deutschen ist langsam gewachsen. Lange war das Thema unter dem Begriff „Health Literacy“hauptsächl­ich in den USA bekannt. Das änderte sich erst 2016 mit der Studie aus Bielefeld, in der sich mehr als die Hälfte der Deutschen eine mindestens eingeschrä­nkte Gesundheit­skompetenz bescheinig­te.

Um zu verstehen, wie bedeutsam das Thema ist, müsse man sich vor Augen führen, was mit Gesundheit­sinformati­onen gemeint ist, sagt die Sozialwiss­enschaftle­rin Susanne Jordan. „Es sind Informatio­nen aus dem Alltag, auf deren Basis wir ständig

kleine Entscheidu­ngen treffen“, so Jordan, die am Robert-KochInstit­ut (RKI) im Fachgebiet „Gesundheit­sverhalten“arbeitet. Es sind Beipackzet­tel von Medikament­en, Informatio­nen über die anstehende Therapie, aber auch Bezeichnun­gen auf Lebensmitt­eln oder „die Frage, wo ich pflegebedü­rftige Angehörige unterbring­e“.

Dass das Verstehen oder Nicht-Verstehen dieser Informatio­nen nicht nur mit dem Bildungsni­veau zu tun hat, zeigte die Bielefelde­r Studie. Immerhin rund 44 Prozent der Menschen mit einem hohen Bildungsni­veau wiesen eine problemati­sche Gesundheit­skompetenz

auf. „Auch mir fällt es nicht leicht herauszufi­nden, wo genau ich am besten behandelt werde und wie ich meine Rechte umsetze“, sagt Marie-Luise Dierks.

„Die Anforderun­gen unseres Gesundheit­ssystems sind sehr hoch.“

Die Wissenscha­ft hat die Bedeutung des Themas erkannt. Vor einem halben Jahr wurde der von Prof. Doris Schaeffer initiierte „Nationale Aktionspla­n Gesundheit­skompetenz“(NAP) vorgestell­t, ein wissenscha­ftlicher Leitfaden zur Verbesseru­ng der Gesundheit­skompetenz in Deutschlan­d. Ein Expertenkr­eis aus Wissenscha­ftlern und Praktikern entwickelt­e Empfehlung­en, wie etwa durch Veränderun­gen im Bildungssy­stem oder in Gesundheit­seinrichtu­ngen die Menschen lernen können, besser mit ihrer Gesundheit umzugehen.

Das Verstehen oder NichtVerst­ehen

Wiederhole­n können, was der Arzt gesagt hat

So könnte in die Lehrpläne der Schulen der Umgang mit Gesundheit­sinformati­onen integriert werden: Was steht drin, wie vertrauens­voll ist die Quelle und was bedeutet das jetzt für mich? Im Medizinstu­dium soll die Arzt-Patienten-Kommunikat­ion künftig einen größeren Raum einnehmen.

„Wir empfehlen außerdem, in Arztpraxen die sogenannte Teach-Back-Methode einzuführe­n“, sagt Prof. Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance in Berlin und Mitglied im NAP-Expertenbe­irat. Dabei erklärt der Arzt dem Patienten, welche Krankheit er hat oder wie das weitere Vorgehen aussieht. Dann wird der Patient aufgeforde­rt, das soeben Gehörte zu wiederhole­n.

Die Ärzteschaf­t öffne sich für das Thema Gesundheit­skompetenz, erzählt Hurrelmann. „Das heißt nicht, dass die Mehrheit der Mediziner schon heute eine andere Art der Kommunikat­ion anwendet, aber das Problem ist erkannt.“Anders als früher werde der Arzt von vielen heute nicht mehr als absolute Autorität angesehen. „Die Patienten wollen einbezogen werden oder sogar auf Augenhöhe mit dem Arzt treten.“Das bestätigt Susanne Jordan vom RKI. „Früher hat der Arzt für uns entschiede­n. Heute nimmt das gemeinsame Entscheide­n eine größere Rolle ein.“

Dieser Anspruch der Patienten hat auch mit der Verfügbark­eit von Informatio­nen zu tun. Wer sucht, der findet im Internet. „Zurzeit stehen uns unermessli­ch viele Informatio­nen zur Verfügung“, sagt Hurrelmann. Doch bislang sei jeder auf sich selbst angewiesen, sie einzuordne­n. „Wenn ich aber nicht in der Lage bin, mich gut zu informiere­n, schade ich meiner Gesundheit“, sagt Marie-Luise Dierks.

Die Professori­n ist Gründerin von Deutschlan­ds erster Patientenu­niversität (www.patientenu­niversitae­t.de), einer unabhängig­en Bildungsei­nrichtung. Nicht nur interessie­rte Laien, auch Ärzte, Medizinstu­denten und Pflegeschü­ler kommen an die Universitä­t. Noch finden die meisten Veranstalt­ungen in Hannover statt, aber „ich träume von einer Patientenu­niversität in jedem Bundesland“, sagt Dierks. „Eine Option wären außerdem virtuelle Vorträge, in die sich Interessie­rte online einschalte­n könnten.“

Das Bewusstsei­n für die Notwendigk­eit fundierter Angebote wächst. So hat das Institut für Qualität und Wirtschaft­lichkeit im Gesundheit­swesen im Auftrag des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums ein Konzept für ein Gesundheit­sportal entwickelt. Bis zum Start empfiehlt Hurrelmann Internetse­iten, die „über jeden Zweifel erhaben sind“.

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Foto: dpa/pa Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker: Laut einer aktuellen Studie haben die meisten Patienten Probleme, die Aussagen in Beipackzet­teln zu verstehen.

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