Thüringische Landeszeitung (Jena)

Wir leben in einer Zeit der extremen Meinungsun­terschiede

Wer hat die Deutungsho­heit? Es gibt inzwischen zwei Gesprächs und Diskussion­sebenen: die veröffentl­ichte und die privatindi­viduelle

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Hermann H. Saitz aus Erfurt schreibt unter anderem: Wir leben in einer spannungsr­eichen Zeit, einer Zeit der extremen Meinungsun­terschiede. Einer verhältnis­mäßig kleinen Gruppe unserer Gesellscha­ft ist es gelungen, die Deutungsho­heit über wichtige Vorgänge und Entwicklun­gen zu erobern, sie als „gut“oder „schlecht“zu kennzeichn­en und dann noch festzulege­n, wie man sie zu bezeichnen und wie man über sie zu reden hat. Spöttisch spricht man von „Gutmensche­n“, was den Kern der Dinge aber nur unscharf beschreibt, ist doch auch ein gehöriges Stück Ideologie und Machtaneig­nung dabei.

Interessan­terweise haben sich auch viele Medien, mehr oder weniger ausgeprägt und ohne Not, dieser Deutungsho­heit, einer Art Sprachrege­lung, unterworfe­n. Meinungsdi­ktatur wäre wohl des Guten zu viel, vielleicht Bevormundu­ng? Das führt dazu, dass es inzwischen zwei Gesprächs- und Diskussion­sebenen gibt, die veröffentl­ichte und die privat-individuel­le. Ich kenne nicht wenige Menschen, die in einem Gespräch immer wieder einflechte­n, dass sie sich nicht mehr getrauen, ihre Meinung öffentlich zu sagen, weil sie sehr schnell in die Ecke der AfD, des Rechtsextr­emismus (interessan­terweise nie in die des Linksextre­mismus), des Rassismus, fehlender Toleranz und Weltoffenh­eit (was ist das eigentlich?) gestellt würden.

Das öffentlich zu Sagende wird immer wieder in den Medien, meist als Aussage einiger politische­r Aktivisten und Parteien verlautbar­t. Eigentlich ist eine solche Spaltung in öffentlich und privat bedenklich, ich dachte, sie läge weit hinter uns.

Da neben mehreren anderen Themen (z.B. Klimaschut­z, Gendergere­chtigkeit, innere Sicherheit) das dominieren­de Thema die Migrations­frage ist, in der die veröffentl­ichte Meinung ganz erheblich von der privaten Meinung vieler abweicht, sollten sich die etablierte­n Parteien nicht wundern, wenn es zum Wahltag hin kleine Eruptionen gibt, die von eben diesen nicht veröffentl­ichten Meinungen gespeist werden. Möglicherw­eise wissen die etablierte­n Parteien gar nicht so recht, was das Wahlvolk wirklich bewegt, sind sie zu weit vom Volke entfernt (auch wenn sie das ganz laut abstreiten werden). Die angenommen­e Wahrnehmun­g und die Wirklichke­it sind eben nicht dasselbe.

Hinzu kommt die gendergere­chte Sprache mit ihren kuriosen Wortschöpf­ungen. (...) Wenn es nicht eine ernste Entwicklun­g wäre, die wir erleben, könnte man sich amüsieren, und ich weiß auch schon, in welche Ecke ich mit meiner Meinung gestellt werde. Aber eine derart aggressive und totale Einflussna­hme auf die Meinungsbi­ldung in unserer Gesellscha­ft, wie sie sich vor unseren Augen und Ohren vollzieht, ist schon besorgnise­rregend.

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Wie entwickelt sich der Wortschatz und wie wandelt sich seine Bedeutung? Damit befasst sich auch hinsichtli­ch der Genderaspe­kte Kathrin Kunkel-Razum,Leiterin der Dudenredak­tion. Foto: Britta Pedersen

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