Thüringische Landeszeitung (Jena)
„Pauschalisierungen bringen uns nicht weiter“
Thüringer Jugendgerichtstag in Jena: Ein Gespräch über Sachlichkeit, Kriminalität unter jungen Migranten und den rhetorischen Kampf um den Rechtsstaat
JENA. Gewalt, Diebstahl und Extremismus: In Jena debattierten Richter, Staatsanwälte, Jugendgerichtshelfer und andere Fachpersonen über Jugendkriminalität. Der Thüringer Jugendgerichtstag wird organisiert von der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ). Wir sprachen am Rande mit Heike Ludwig, als Vorsitzende der Thüringer Landesgruppe des DVJJ die Organisatorin des Tages, sie ist zudem Lehrstuhlinhaberin für Sozialwissenschaften an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena.
Was hat sich herauskristallisiert: Wo gibt es Probleme und Fallstricke für Jugendgerichte und Jugendgerichtshelfer?
Die Thüringer Jugendgerichtstage beschäftigen sich mit wechselnden Themen aus dem Bereich der Jugendstrafrechtspflege. In diesem Jahr haben wir uns unter anderem mit der Gewaltkriminalität junger Menschen beschäftigt, wir haben weiterhin eine Studie zu rechtsextremen Einstellungen im Thüringer Jugendstrafvollzug und ein Projekt zur Deradikalisierung diskutiert. Uns geht es darum, ein sachliches Bild der Gewaltkriminalität junger Menschen in Deutschland zu vermitteln. Sören Kliem vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen hat uns sehr klar zeigen können, das es bei der Analyse der statistischen Daten zur Gewalt weitaus mehr Anlass für Beruhigung gibt als für Aufregung. Er hat auch die Thüringer Zahlen herangezogen, diese zeigen in die gleiche Richtung. Die Thüringer Zahlen zeigen in den vergangenen Jahren, dass die Jugendkriminalität gleichbleibend ist, konstant hoch könnte man sagen. Nein, ganz so stimmt das nicht. Wir haben einen starken demografischen Effekt. In den absoluten Zahlen haben wir einen Rückgang, das heißt, es gibt weniger junge Menschen in der Gesellschaft und somit nimmt auch die Kriminalität dieser Altersgruppe ab. Auch die Anzahl junger Menschen pro Hunderttausend dieser Altersgruppe, die Straftaten begeht, also die Zahl, die genauer über Trends Auskunft gibt, nimmt ab. Das gilt auch für Gewaltkriminalität. Wir haben uns innerhalb der Gewaltkriminalität auch die Gewaltdelikte von jungen Asylsuchenden angesehen, uns also mit dem „Aufregerthema“schlechthin beschäftigt.
Was bedeutet das?
Es sind Menschen zu uns gekommen, und bei mehr Menschen haben wir in absoluten Zahlen mehr Kriminalität. Das ist logisch und zeigt sich in den Statistiken. Es geht auch um die Frage, ob bezogen auf ihre Anzahl junge Asylsuchende mehr Straftaten verüben. Dazu müssen wir uns die Risikofaktoren ansehen, die Kriminalität befördern – das sind zum Beispiel das Alter, das Geschlecht, die Lebenssituation. Wenn wir das tun und die Gewaltkriminalität junger Asylsuchender anschauen, sehen wir ganz klar: Es handelt sich ganz überwiegend um junge Männer, die oft in einer perspektivlosen Lebenssituation feststecken. Der seriöse Vergleich wäre also, ihre Zahlen der Gewaltdelikte mit denen von jungen deutschen Männern zu vergleichen, das gibt die Statistik her. Erkennbar wird, dass sich bei diesem Vergleich die Zahlen ähneln.
Warum wird das Ihrem Erachten nach nicht verglichen? Das sind nicht ganz einfache Interpretationen, dazu muss man sich schon genauer in die Kriminalstatistik einlesen. Ein weiterer Aspekt ist bei der Interpretation zu beachten: die Anzeigequote. Wenn durch eine hohe gesellschaftliche Sensibilisierung mehr Anzeigen erfolgen, heißt es nicht automatisch, dass das Phänomen zugenommen hat.
Derzeit ist das beim Thema sexuelle Belästigung unter dem Schlagwort #Metoo zu erkennen. Genau. Das ist ein bekanntes Phänomen, dass Sensibilisierung Einfluss auf die Anzeigequote hat. Wir müssen in der allgemeinen öffentlichen Debatte wiederholen, dass unsere Sensibilität, unsere Ablehnung bestimmter Kriminalitätsformen unsere Kriminalstatistik beeinflusst. Wir nehmen aber oft die Kriminalstatistik als das einzig wahre Bild, und das ist verkürzt. Wir müssen immer auch das Dunkelfeld, also das Ausmaß nicht angezeigter Delikte, anschauen und die Anzeigequote.
Der Ruf nach dem Rechtsstaat, der härter durchgreifen soll, ertönt derzeit oft. Was halten sie von diesen Äußerungen?
Sie sind total verkürzt und vereinfachen Zusammenhänge. Gesetze müssen natürlich durchgesetzt werden, aber sie enthalten Spielräume. Wir müssen den Einzelfall bewerten. Mit Pauschalisierungen kommen wir nicht weiter.
Immer wieder erschallen dennoch Forderungen, zum Beispiel das Alter im Jugendstrafrecht herabzusetzen.
Die Forderung gibt es schon länger und sie ist von der Fachwelt immer mit guten Argumenten abgewehrt worden. Das Jugendgerichtsgesetz hat eine große Bandbreite von Sanktionen. Wir können auf schwere Taten entsprechend reagieren – dafür gibt es auch den Jugendvollzug –, aber eben auch auf die Lebenssituation der jungen Menschen zum Beispiel mit Betreuungsweisungen. Die jungen Täter sind noch mitten im Prozess des Hineinwachsens in gesellschaftliche Normen. Das Erziehungsprinzip gilt zu Recht. Im Rahmen der Sanktionen soll diejenige gewählt werden, die am ehesten erreichen kann, dass der junge Mensch keine weiteren Straftaten mehr begeht.
Kommen die Jugendgerichte nach mit den Fällen, die sie zu verhandeln haben?
Ich denke schon. Es ist immer relevant, in welchen Zeiträumen etwas passiert. Wenn ein junger Mensch merkt, in sieben Monaten passiert gar nichts, denkt er, es wird toleriert, und dann kommt das Verfahren. Aber genauso wichtig ist eine ordentliche Ermittlung und Aufklärung der Justiz und aussagekräftige Berichte der Jugendgerichtshilfe zur Lebenssituation der Person. Das bedeutet, man kann nicht beliebig beschleunigen, ohne dass man Qualität verliert.