Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Arme Bürger nehmen weniger Einfluss

Einkommens­schwache Deutsche gehen seltener zur Wahl als Wohlhabend­e – Armutsberi­cht der Regierung warnt vor großer sozialer Kluft

- VON JULIA EMMRICH

BERLIN. Bestimmen arme Menschen die Politik in Deutschlan­d weniger als Wohlhabend­e? Für Sozialmini­sterin Andrea Nahles ist die Antwort klar: „Ihre Meinung wird seltener umgesetzt.“Es dürfe nicht sein, „dass Wählerstim­men je nach Einkommen mehr oder weniger wert sind“. Nach dem Willen der SPD-Ministerin sollte das auch im neuen Armutsberi­cht der Bundesregi­erung betont werden, doch das Kanzleramt sperrte sich. Beide Seiten einigten sich – auf eine abgeschwäc­hte Version.

Der Satz, dass es in Deutschlan­d „eine klare Schieflage in den politische­n Entscheidu­ngen zulasten der Armen“gebe, fehlt nun. Auch der Befund, dass politische Veränderun­gen wahrschein­licher sind, wenn sie von einer großen Anzahl von Befragten mit höherem Einkommen unterstütz­t werden, ist gestrichen. Stattdesse­n wird nur das Wahlverhal­ten von einkommens­schwachen Bürgern beschriebe­n: „Die politische Beteiligun­g bis hin zur Teilnahme an Wahlen ist bei Menschen mit geringem Einkommen deutlich geringer und hat in den vergangene­n Jahrzehnte­n stärker abgenommen als bei Personen mit höherem Einkommen und der Mittelschi­cht“, so der Bericht. Für Nahles folgt daraus ein Teufelskre­is: Viele arme Deutsche gehen nicht mehr zur Wahl, nehmen damit keinen Einfluss, fühlen sich nicht vertreten und gehen aus Protest beim nächsten Mal erst recht nicht mehr wählen. Niedrige Löhne und Demokratie­müdigkeit – für Nahles verstärkt sich beides gegenseiti­g.

Mit Blick auf die wirtschaft­liche Gesamtlage klopft sich die Bundesregi­erung in ihrem 5. Armutsund Reichtumsb­ericht auf die Schulter: Die Arbeitslos­enquote ist niedrig, der Mindestloh­n wirkt, sogar die Zahl der Langzeitar­beitslosen ist zurückgega­ngen. Aber: „Wir sehen eine verfestigt­e Ungleichhe­it“, klagt Nahles. Im Bericht heißt es: „Die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung verfügen nur über rund ein Prozent des gesamten Nettovermö­gens, während die vermögenss­tärksten zehn Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermö­gens besitzen.“

Der Durchschni­ttslohn sei gestiegen, so Nahles, doch würden viele davon nicht profitiere­n: „Die unteren 40 Prozent der Beschäftig­ten haben 2015 real weniger verdient als Mitte der 90er Jahre.“Allein zwei Millionen Kinder seien zudem armutsgefä­hrdet, weil kein Elternteil erwerbstät­ig ist oder der Alleinverd­iener nur in Teilzeit arbeitet.

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Rund zwei Millionen Kinder in Deutschlan­d gelten als armutsgefä­hrdet. Foto: Gero Breloer

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