Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Melancholi­sch im Morgentau

Der Schriftste­ller Martin Walser wird 90 und ist längst ein Klassiker – aber einer, dem die Tinte nicht eintrockne­t

- VON WOLFGANG HIRSCH

ÜBERLINGEN. Von seinem Geburtstag will Martin Walser angeblich nichts wissen. „Lassen wirs, ich brauchs nicht“, sagte er vor ein paar Tagen dem vergleichs­weise gemütliche­n Literaturp­apst Denis Scheck in einem TV-Interview. Längst ist Walser ein Klassiker und hat sogar Goethe, was die Lebensjahr­e betrifft, überholt. Heute wird er unglaublic­he 90 und begeht diesen denkwürdig­en Tag sicherlich in der Heimat am Bodensee. Ein Aufwachen im Frühnebel würde passen. Nebel, die Sphäre der Larmoyanz und des Übergangs. Oft hat er es so in seiner Prosa geschilder­t.

„Sie schreiben über unser Alter wie über ein Gebirge, das sie nur vom Flugzeug aus kennen. Vom Drüberhinf­liegen“, ließ er einst seinen Helden Karl von Kahn formuliere­n. „Sie wissen nicht, wie das ist, in diesem Gebirge zu leben. Es ist ein Gebirge, das Alter. Ein Leben in großer Höhe.“Als er „Angstblüte“veröffentl­ichte, war Walser selbst noch nicht einmal 80. Kahn trieb es noch beim Spaziereng­ehen, bergauf zu beschleuni­gen – und mit natürlich jüngeren Frauen, um jeglichen Preis. Kurz danach erreicht der Autor auf Pegasusflü­geln, von Weimar her reisend, Marienbad und – kommt mit seiner großen Vorbildfig­ur bei der unfassbar jungen Ulrike nicht mehr zum Zuge. Der Levetzow. Inzwischen hat er dem Goethe-Roman „Ein liebender Mann“das sterbende Pendant gegenüberg­estellt und „Mein Jenseits“literarisc­h voll ausgeschri­tten. Wann immer die lesende Welt glaubt, es sei sein finales Buch gewesen, folgt immer wieder ein neues. Übers Alter zu schreiben, hält ihn, der vor Jahren schon ins Religiöse transzendi­erte, offensicht­lich vital.

Wie auch immer, es hätte ein Walser all dies nicht nötig gehabt. Als Chronist des deutschen Mittelstan­ds überragt der famose Stilist die Updikes und Franzens dieser Welt im hiesigen Format der gewesenen Nachkriegs­republik bei weitem. Nur ist halt das Schreiben sein Lebenselix­ier. Er kann einfach nicht aufhören. „Ich bin glücklich, wenn mir der Tod den Kugelschre­iber aus der Hand schlägt“, bekundete er vor zirka fünf Jahren. Und was hat er für Kämpfe gefochten, durchlitte­n! Ja, das Leiden

am Leben war ihm stets eine Lust – schon früh, in der Anselm-KristleinT­rilogie beispielsw­eise.

Wie ein Sisyphos-Stein lastet das Alterswerk auf Walsers Schriftste­ller-Nimbus. Wer wüsste heutzutage schon noch, dass der in Wasserburg geborene Sohn eines Bahnhofsga­stwirts und Kohlenhänd­lers, der so tief von seiner Heimat und Landschaft geprägt wurde („Ein springende­r Brunnen“) und in Tübingen Germanisti­k studierte (Dissertati­on über Kafka), mal ein Avantgardi­st und streitbare­r Linker war. Natürlich gehörte er fast von Beginn an zur Gruppe 47 und protegiert­e beim Süddeutsch­en Rundfunk die Freunde. Man munkelt von ferne sogar, er sei DKPSympath­isant gewesen.

Später indes galt Walser als Deutschnat­ionaler. Das war, als er

1998 in seiner aufrichtig­en, gründlich missversta­ndenen Paulskirch­enrede zum Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s davor warnte, das Holocaust-Gedenken drohe in seinen Augen zum gebetsmühl­enartigen Ritual zu verkommen. Erst recht, als er 2002 mit „Tod eines Kritikers“literarisc­h bittere Rache an seinem vermeintli­chen Erzfeind Marcel Reich-Ranicki nahm und in der FAZ als Antisemit denunziert wurde. All das hat Walser heute weit hinter sich gelassen. Die Larmoyanz des Alters ficht niemanden mehr an.

Dennoch lohnt es, mit diesem intellektu­ellen Literatur-Methusalem, der vor zehn Jahren – also zu früh! – seinen Vorlass ins Marbacher Archiv übergab, die Stationen der Republik nochmal zu bereisen. Zu den spießer-verbiester­ten „Ehen in Philippsbu­rg“

vielleicht, auf den Spuren des Weltschmer­z-Experten zur „Gallistl‘schen Krankheit“, zum – herrlich verfilmten – erotisch-novellisti­schen Reigen „Ein fliehendes Pferd“und ganz sicher in die Wendezeit auf Besuch bei Alfred Dorn, dem verschrobe­nen Archivar familiärer Erinnerung in der „Verteidigu­ng der Kindheit“(1991). Das war Martin Walsers womöglich schönstes Buch, schon rückblicke­nd, aber noch glutvoll-eifernd. So wie – bis heute unterschät­zt – „Finks Krieg“, als er mit samtener Ironie die kafkaeske Mechanik eines Bürokratie­apparates sezierte. Ihre schönsten Momente feiert seine Prosa stets da, wo er aus der Banalität des Alltäglich­en, scheinbar Gewöhnlich­en in ein poetisches Schweben gerät – und sei es um den Preis einer Weinerlich­keit, wie sie nur einem derart Sensiblen, allzu Verletzlic­hen zu eigen sein kann. Einem soziologis­chen Seismograh­en, der mal mit süffisante­r, mal zorniger Handbewegu­ng den Schein von der Moral wegwischt und eigentlich für eine Existenz in der Öffentlich­keit nicht geschaffen war. Nie schaut er auf uns herab, stets wollte er Teil der Gemeinscha­ft sein. Nun ist unsere Gesellscha­ft mit ihm gealtert. Es möge schier keine Ende damit haben.

Was wünscht man also zum 90? – Dass er wach bleibt und dass die Tinte nicht eintrockne­t, ad ultimo!

Was hat er für Kämpfe gefochten, durchlitte­n!

Scheinbar Gewöhnlich­es in ein Schweben gebracht

 ?? Foto: Felix Kästle ?? Martin Walser hat jetzt sogar sein großes Vorbild Goethe, was die Lebensjahr­e betrifft, weit hinter sich gelassen.
Foto: Felix Kästle Martin Walser hat jetzt sogar sein großes Vorbild Goethe, was die Lebensjahr­e betrifft, weit hinter sich gelassen.

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