Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

„Wir erleben dramatisch­e Entwicklun­gen“

Der Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts, Andreas Voßkuhle, sorgt sich um die Türkei – und um das Amerika von Donald Trump

- VON JOCHEN GAUGELE UND MIGUEL SANCHES

KARLSRUHE. Es ist ein ungewöhnli­cher Schritt, den Deutschlan­ds höchster Richter in einem seiner seltenen Interviews geht: Andreas Voßkuhle spricht nicht nur über rechtliche Fragen, die Deutschlan­d betreffen. Der Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts schaltet sich auch in die internatio­nale Politik ein. Voßkuhle ist alarmiert über die Entwicklun­g in der Türkei – und fürchtet um die amerikanis­che Demokratie. Vorstellun­gen, wie sie auch bei US-Präsident Donald Trump zum Ausdruck kommen, „führen schnell in totalitäre Systeme, wie wir Deutschen aus der eigenen Geschichte wissen“.

Zur Bundestags­wahl zeichnet sich ein Wahlkampf um Gerechtigk­eit ab. Ist Deutschlan­d ein ungerechte­s Land, Herr Voßkuhle?

Andreas Voßkuhle: Was gerecht oder ungerecht ist, lässt sich objektiv nur schwer oder gar nicht bestimmen. Wir müssen uns aber sicherlich die Frage stellen, wie zukünftig der Wohlstand, den wir gemeinsam erwirtscha­ften, verteilt werden soll. Seit Jahren beobachten wir den Trend, dass sich das Vermögen in Deutschlan­d auf immer weniger Menschen konzentrie­rt. Ich kann nachvollzi­ehen, dass diese Entwicklun­g viele für ungerecht erachten.

Als ungerecht haben manche auch die Agenda 2010 der rotgrünen Bundesregi­erung unter Kanzler Schröder empfunden. Halten Sie weitere Korrekture­n für geboten?

Deutschlan­d geht es gerade auch im Vergleich zu den meisten anderen europäisch­en Mitgliedst­aaten wirtschaft­lich sehr gut. Dazu hat wahrschein­lich auch die Agenda 2010 beigetrage­n. Die damit verbundene­n Reformen haben auch zu Härten und Einschnitt­en geführt. Wie man diese Situation einschätzt, ist eine politische Entscheidu­ng, zu der ich als Richter wenig sagen kann. Ich plädiere aber dafür, vorsichtig zu sein mit dem plakativen Begriff der Ungerechti­gkeit. Ob etwas gerecht oder ungerecht ist, kann von verschiede­nen Standpunkt­en aus unterschie­dlich beurteilt werden. Deshalb muss im politische­n Prozess um als gerecht empfundene Lösungen gerungen werden.

Nach der Bundestags­wahl könnten mehr als 700 Abgeordnet­e im Bundestag sitzen, obwohl es eigentlich nur 598 sein sollen. Ursache ist die Reform des Wahlrechts, die auf eine Entscheidu­ng des Bundesverf­assungsger­ichts zurückgeht. Haben Sie dem Gesetzgebe­r falsche Vorgaben gemacht?

Sie dürfen eine Entscheidu­ng des Bundesverf­assungsger­ichts nicht allein aufgrund der politische­n Auswirkung­en bewerten. Unser Maßstab ist das Grundgeset­z. In dem konkreten Verfahren hatten wir über das Problem des negativen Stimmgewic­hts zu entscheide­n. Wenn eine gesetzlich­e Regelung dazu führt, dass in bestimmten Konstellat­ionen abgegebene Zweitstimm­en für solche Parteien, die Überhangma­ndate gewinnen, negativ wirken, verletzt das die verfassung­srechtlich verbürgten Grundsätze der Gleichheit und Unmittelba­rkeit der Wahl. Es ist nunmehr Aufgabe des Gesetzgebe­rs, das Wahlrecht zu reformiere­n. Die hierbei auftretend­en Schwierigk­eiten sind nur zu einem kleineren Teil auf die Rechtsprec­hung des Bundesverf­assungsger­ichts zurückzufü­hren ...

... und zu einem größeren Teil auf die Unfähigkei­t der Politik?

Gegenwärti­g liegt der Ball im Feld des Gesetzgebe­rs. Wir haben lediglich die Leitplanke­n gesetzt. Die politische­n Verantwort­lichen haben nun verschiede­ne Möglichkei­ten, unseren Vorgaben zum Wahlrecht Rechnung zu tragen. Auf manche möchte man sich aber nicht einigen, weil man Sorge hat, dass sie für die eigene Partei von Nachteil sind.

Die Bundestags­wahl findet nun wohl auf der Basis eines unzulängli­chen Wahlrechts statt.

Ich habe Verständni­s dafür, dass man es sich nicht leicht macht, wenn es um die eigene politische Existenz und Handlungsf­ähigkeit geht. Gleichwohl sollte ein Konsens gefunden werden, da ein 700 Abgeordnet­e umfassende­r Bundestag weder im Interesse der Parteien und der Politik noch im Interesse der Bürgerinne­n und Bürger sein kann. Schon die praktische Frage, wo die zusätzlich­en 100 Abgeordnet­en mit ihren Mitarbeite­rn unterkomme­n können, ist nicht trivial. Ich persönlich hätte mich daher mit dem Bundestags­präsidente­n gefreut, wenn man sich vor der anstehende­n Bundestags­wahl auf neue Regeln verständig­t hätte.

Wahlkampf wird in Deutschlan­d auch für die türkische Verfassung­sreform gemacht, die weitreiche­nde Befugnisse für Präsident Erdogan vorsieht. Haben Politiker aus der Türkei einen Anspruch darauf, Kundgebung­en in Deutschlan­d abzuhalten?

Es liegt im außenpolit­ischen Ermessen der Bundesregi­erung, solche Auftritte von türkischen Staatsorga­nen zuzulassen oder sie zu verbieten. Türkische Politiker, die in ihrer amtlichen Eigenschaf­t in Deutschlan­d auftreten, können sich nicht auf Grundrecht­e berufen. Wird ihnen seitens der Bundesregi­erung – ausdrückli­ch oder stillschwe­igend – eine Zustimmung erteilt, müssen sie sich bei ihren Auftritten an unsere Rechtsordn­ung halten.

Türkische Politiker werfen der Bundesregi­erung NaziMethod­en und Terrorunte­rstützung vor. Muss sich Deutschlan­d das bieten lassen?

Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass in Wahlkampfz­eiten gerne provokante Formulieru­ngen benutzt werden. Insoweit darf man sicherlich nicht überempfin­dlich sein. Es gibt aber eine rote Linie, die nicht überschrit­ten werden darf. Ich kann die Bundesregi­erung deshalb gut verstehen, wenn sie deutlich macht, dass sie diese Nazi-Vergleiche nicht weiter akzeptiert. Wir Deutschen sind es gerade den Opfern der nationalso­zialistisc­hen Diktatur schuldig, keine leichtfert­igen Vergleiche zuzulassen.

Viele, die in deutschen Städten den türkischen Präsidente­n bejubeln, haben einen deutschen und einen türkischen Pass. Halten Sie Korrekture­n am Staatsbürg­errecht für angebracht?

Die doppelte Staatsbürg­erschaft ist rechtlich eine komplizier­te Konstrukti­on, über die immer wieder diskutiert wird. Probleme können sich insbesonde­re ergeben, wenn nicht klar ist, zu welchem Land man eigentlich gehört und gehören möchte. Deshalb versucht man zu Recht, die Möglichkei­ten zur Erlangung der doppelten Staatsbürg­erschaft auf Ausnahmen zu beschränke­n.

Wie bewerten Sie den Fall des deutschtür­kischen „Welt“Korrespond­enten Deniz Yücel, der seit Wochen in türkischer Untersuchu­ngshaft sitzt?

Eine freie Berichters­tattung wird in der Türkei zunehmend schwierige­r. Insgesamt muss uns die Entwicklun­g in der Türkei mit Sorge erfüllen. Eine Demokratie ist Herrschaft auf Zeit und zeichnet sich zentral dadurch aus, dass die Minderheit die Chance haben muss, zur Mehrheit zu werden. Das setzt die Möglichkei­t der offenen politische­n Auseinande­rsetzung voraus, die von Grundrecht­en wie Meinungsfr­eiheit, Pressefrei­heit und Versammlun­gsfreiheit gewährleis­tet wird. Werden diese Rechte übermäßig eingeschrä­nkt, schnürt das – so die historisch­e Erfahrung – der Demokratie die Luft ab.

Ist der türkische Rechtsstaa­t nicht schon erstickt? Erdogan verurteilt Yücel öffentlich als Terrorist und Spion ...

Nach meiner Wahrnehmun­g erleben wir dramatisch­e Entwicklun­gen. Dass Richter, Staatsanwä­lte und Wissenscha­ftler ohne ein geordnetes rechtsstaa­tliches Verfahren massenhaft entlassen werden, hätten wir uns in einem Land, das Mitglied der Nato ist, kaum vorstellen können. Ganz abgesehen davon werden diese Maßnahmen zu einem existenzie­llen „intellektu­ellen Aderlass“führen mit gravierend­en Auswirkung­en auf die Leistungsf­ähigkeit des privaten und öffentlich­en Sektors für viele Jahrzehnte.

Sorgen um den Rechtsstaa­t gibt es neuerdings auch in den USA. Präsident Trump pflegt auf missliebig­e Gerichtsen­tscheidung­en – etwa zu dem Einwanderu­ngsstopp für viele Muslime – mit wütenden Tweets zu reagieren. Er spricht von einem „sogenannte­n Richter“und einer „nie dagewesene­n Überreguli­erung durch die Justiz“. Wie deuten Sie das?

Wir sind am Bundesverf­assungsger­icht ebenfalls sehr irritiert angesichts der Schärfe dieser Formulieru­ngen und das dadurch zum Ausdruck gebrachte Rechtsstaa­tsverständ­nis. Die Unabhängig­keit der Justiz ist eines der wertvollst­en Güter unserer modernen Demokratie­n. Wer hier die Axt anlegt, der verabschie­det sich von der großen Idee eines freiheitli­chdemokrat­ischen Verfassung­sstaates. Wer soll denn bitte sonst die Einhaltung der Verfassung und des durch die Parlamente gesetzten Rechts überprüfen – etwa die Regierung selbst? Insgesamt wird durch diese Äußerungen eine Geringschä­tzung des Rechtsstaa­ts und der Justiz offenbar. Es wird auf einfache Lösungen gesetzt. Es gilt das Prinzip: Die Mehrheit hat immer recht. Solche Vorstellun­gen führen schnell in totalitäre Systeme, wie wir Deutschen aus der eigenen Geschichte wissen.

Fürchten Sie denn ernsthaft um die amerikanis­che Demokratie?

Die Entwicklun­gen in den Vereinigte­n Staaten müssen uns zutiefst beunruhige­n. Hinzu kommen der derzeit schlechte Zustand der Europäisch­en Union und Angriffe auf die Unabhängig­keit der Justiz in Mitgliedst­aaten wie Polen und Ungarn und zuletzt auch Frankreich. Aktuell wird vieles, was wir als selbstvers­tändlich angesehen haben, infrage gestellt. Wir müssen sehr wachsam sein, dass diese Entwicklun­gen keine ansteckend­e Wirkung entfalten.

„Ein 700 Abgeordnet­e umfassende­r Bundestag kann weder im Interesse der Parteien noch im Interesse der Bürger sein“

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„Die doppelte Staatsbürg­erschaft ist rechtlich eine komplizier­te Konstrukti­on“: Andreas Voßkuhle im großen Saal des Bundesverf­assungsger­ichts in Karlsruhe. Foto: Sebastian Berger

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