Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Fluch des Erinnerns

Christoph Hein schildert in seinem Roman „Trutz“ein erschütter­ndes Moskauer Emigranten­schicksal, das in Weimar endet

- VON FRANK QUILITZSCH

ERFURT. „Das Vergessen wird belohnt, nicht das Gedächtnis“, sagt der Archivar Maykl Trutz bitter. „Wenn Sie schnell und rasch vergessen, werden Sie glücklich auf Erden und können in Ruhe alt werden.“

Wie schwer es jemand hat, der nicht vergessen kann, in Christoph Heins neuem Roman wird es erfahrbar. „Trutz“, so sein Titel, ist ein Buch über die Macht und den Fluch des Erinnerns – und ein Jahrhunder­tbuch zugleich.

Der Autor schlägt den Bogen von den 1930er-jahren bis in die Gegenwart, von der Hitler- und Stalin-zeit über das Ende der Sowjetunio­n und der DDR bis zur deutschen Wiedervere­inigung. Stationen sind Berlin, Moskau, Workuta, eine Stadt in Kasachstan, Potsdam und Weimar. Der Terror der Nazi-herrschaft und der stalinisti­schen „Säuberunge­n“und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs werden am Schicksal einer deutschen Familie und ihrer russischen Freunde verstörend lebendig.

Eine heutige Episode setzt die Geschichte in Gang: Bei einer Veranstalt­ung der Bundesstif­tung zur Aufarbeitu­ng der Sed-diktatur in Berlin erlebt der Erzähler, wie sich mehrmals ein älterer Herr zu Wort meldet, um der Referentin gravierend­e Fehler in ihrem Vortrag anzukreide­n. Dabei zitiert er die Fakten aus dem Gedächtnis. Die Chefin des Bundesarch­ivs reagiert verärgert, das Publikum zunehmend genervt. Man wimmelt den Störenfrie­d ab.

Doch die Neugier des Erzählers ist geweckt. Er besucht den alten Mann, besagten Maykl Trutz, und hört dessen unglaublic­he Familienge­schichte. Die trotz seines phänomenal­en Gedächtnis­ses Lücken aufweist. Als Trutz kurze Zeit später stirbt, begibt sich der Erzähler auf Spurensuch­e in deutschen und russischen Archiven. „Trutz“ist eine Odyssee durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunder­ts. Der Roman legt aus Opfersicht Zeugnis ab von ideologisc­hen Verirrunge­n und Gewaltexze­ssen im Namen der Revolution und des deklariert­en gesellscha­ftlichen Fortschrit­ts.

Zunächst erfährt der Leser die bewegende Geschichte einer Emigration, nämlich die von Maykls Vater: Rainer Trutz, ein linksliber­aler Schriftste­ller, eckt in Berlin bei den Nazis an, wird bedroht und muss aus Deutschlan­d fliehen. Mithilfe einer lettisch-russischen Bekannten gelangt er mit seiner Frau in die Sowjetunio­n. Die beiden wähnen sich in Sicherheit, bis die Schauproze­sse und die folgenden Massenverh­aftungen das Klima im Alltag vergiften.

Der Terror macht auch vor den Emigranten nicht halt. Trutz kommt im Arbeitslag­er um, seine Frau stirbt in der Verbannung, wohin es auch die russischen Freunde verschlägt. Schicksale, wie es sie in der UDSSR zwischen 1934 und 1945 hunderttau­sendfach gab und über die, aus deutscher Sicht, in den letzten Jahren

einiges geschriebe­n und publiziert wurde.

Doch so, wie Christoph Hein die Geschichte aufzieht, hat man es noch nicht gelesen. Er verknüpft die Biografien seiner Helden mit der Frage nach dem Sinn des Erinnerns, der Bedeutung des menschlich­en Gedächtnis­ses überhaupt. Und dabei kommt ihm ein vergessene­s Kapitel sowjetisch­er Linguistik zu pass.

Über den in Moskau geborenen Trutz-sohn Maykl schlägt der Erzähler den Bogen weiter. Das Waisenkind wird von der Familie des russischen Sprachwiss­enschaftle­rs Waldemar Gejm adoptiert, bei dem es seit Jahren mit dessen Sohn Rem ein spielerisc­hes Gedächtnis­training absolviert. Von der sowjetisch­en Mnemonik, einem sprachwiss­enschaftli­chen Zweig, der nach Christoph Heins Darstellun­g unter Stalin ausgemerzt wird, bleibt nach Gejms Tod nur, was Maykl Trutz im Kopf hat. Er erwarb die Fähigkeit, alles einmal Niedergesc­hriebene nie wieder zu vergessen. Doch hilft sie ihm?

„Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist...“Trutz Junior wird nicht glücklich, weder beruflich noch privat. Immer wieder macht er die Erfahrung, dass es besser ist, unliebsame Wahrheiten für sich zu behalten. Zumal niemand in der DDR hören will, was mit seinen Eltern in der Sowjetunio­n geschah. Trutz – der Name suggeriert Trotz, trotzig, trotz alledem. Wurde der weithin ahnungslos­e und gutgläubig­e Vater noch zwischen den Ideologien zerrieben, so lernt Sohn Maykl, Verführung­en zu widerstehe­n und keine faulen Kompromiss­e einzugehen. Das macht ihn, der weder in die FDJ noch in die Partei eintritt, unter seinen Vorgesetzt­en verdächtig. Als er die braune Vergangenh­eit eines Erfurter Sed-bezirkssek­retärs und Politbürom­itglieds aufdeckt, kommt es zum Eklat. Um ideologisc­hen Schaden abzuwenden, legt der antifaschi­stische Staat seine schützende Hand über den ehemaligen Ss-mann und bestraft Trutz, weil der ihn an den Pranger stellen wollte.

„Was ich Ihnen vorgelegt habe, das sind alles Dokumente. Unwiderleg­bare, echte Dokumente, die die Wahrheit widerspieg­eln.“– „Die Wahrheit, nun ja, gewiss wahr, aber unerwünsch­t. Die Archive sollen nicht die Wahrheit liefern, sondern die dazu passende Wahrheit“, wird Maykl Trutz belehrt.

Der Preis für seine Unbestechl­ichkeit: Als Archivar eckt der Wahrheitss­ucher Trutz immer wieder an, man zieht ihn aus den zeitgeschi­chtlichen Archiven ab und versetzt ihn ins Weimarer Goethe- und Schillerar­chiv, wo er sich an der Transkript­ion

klassische­r Handschrif­ten abarbeiten darf.

Das alles wird nüchtern berichtet, dann wiederum sehr emotional und detailreic­h auf fast 500 Seiten ausgebreit­et. Über die Jahre hat sich Heins Erzählstil gewandelt. Zeichnete sich seine frühe Prosa – wie „Der fremde Freund“und „Horns Ende“– durch hohe Dichte und eine parabelhaf­te Kunstferti­gkeit aus, so pflegt er mittlerwei­le einen eher schlichten, chronistis­chen, manchmal ausschweif­enden Ton. Dennoch: „Trutz“erzeugt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Man folgt gespannt und oft atemlos den Geschehnis­sen von einer überrasche­nden Wendung zur nächsten. Es sei eine erfundene Geschichte, beteuert der Autor, die jeder Überprüfun­g standhalte.

Dieses Buch vergisst man nicht.

● Der Autor liest am morgigen Sonntag,  Uhr, im Erfurter Haus Dacheröden.

Odyssee durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunder­ts

Abschiebun­g ins Weimarer Goethe und Schillerar­chiv

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Foto: Peter Endig Der Schriftste­ller Christoph Hein.
 ??  ?? Christoph Hein: Trutz. Roman, Suhrkamp-verlag, Berlin ,  Seiten,  Euro.
Christoph Hein: Trutz. Roman, Suhrkamp-verlag, Berlin ,  Seiten,  Euro.

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