Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Das ausgelager­te Zimmer

Balkon ,Ve randa und Terrasse verheiße nj etzt entspannen­d em ußestunden und Urlaubsgef­ühle

- Von Antonia Ostersetze­r

ORomeo, Romeo“, schmachtet­e Julia von ihrem Balkon und selbiger ließ sich nicht lange bitten. Noch heute pilgern Touristens­charen in Verona zu dem Ort, an dem der verliebte Montague die berühmte Brüstung erklomm und Shakespear­e so die Bedeutung des Balkons für immer in der Weltlitera­tur verankerte. Doch Balkone sind nicht nur etwas für Romantiker, Päpste, Politiker oder frisch vermählte Royals. So, als habe man mal eben ein Stück der Hauswand herausgekl­appt, vergrößern die Freiluftzi­mmer unseren Lebensraum und locken besonders während der sonnigen Jahreszeit ins „Halb-draußen“.

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Freiheit im Freien

Ein paar Quadratmet­er machen den Unterschie­d. Terrasse, Veranda, Loggia und Balkon laden zum Entspannen ein. Denn im Grunde erfüllen sie keinen festgelegt­en Zweck, außer den Austritt ins Freie – ganz im Gegensatz zu Küche oder Arbeitszim­mer. Auf dem Balkon darf guten Gewissens gärtnern, wer gerne gärtnert, und nichts tun, wer gerne nichts tut. Die fehlende Erwartungs­haltung macht den Balkon zu einem Bereich, der weniger mit Alltag und Pflicht assoziiert wird als vielmehr mit Freizeit und Hobby. Wo eben noch ausgelasse­n mit Freunden und Familie gefeiert wurde, wird sich am Morgen danach gesonnt — im Freien lockt die Freiheit.

Profigrill­s, Hängematte­n, Teakholzmö­bel und Kräutergar­ten zeigen außerdem, dass das heiß geliebte Balkonien oft den Besuch im Park, im Restaurant oder sogar einen ganzen Sommerurla­ub adäquat ersetzt. Das macht den Balkon nicht selten zum entscheide­nden Merkmal auf dem Wohnungsma­rkt, für das — vor allem, wenn Südlage lockt — viele auch schon mal tiefer in die Tasche greifen, um ihren Traum von der eigenen Idylle zu verwirklic­hen. Selbst der sogenannte französisc­he Balkon, eine Balkontür mit Mini-austritt und Brüstung, gilt in begehrter Wohnlage bereits als Luxus. Grundsätzl­ich existiert jedoch keine Definition für Mindestmaß­e von Balkonen oder Terrassen, doch bis zu maximal 50 Prozent der Außen-quadratmet­er dürfen in die Mietpreisb­erechnung einfließen.

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Vom Austritt zur Wohlfühloa­se

Es gibt sie noch. Stiefmütte­rlich vernachläs­sigte Balkone und Terrassen, auf denen sich höchstens Aschenbech­er und Wäschestän­der Gesellscha­ft leisten. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts blieben solch unschöne Abstelleck­en jedoch im Verborgene­n. Man unterschie­d zwischen repräsenta­tiven, aber kaum genutzten Schmuckbal­konen an der straßensei­tig gelegenen Häuserfron­t und Wirtschaft­sbalkonen, die an den Hoffassade­n der Häuser erbaut und für Hausarbeit­en genutzt wurden. Ohnehin fanden Balkone ihren Weg vom Land in die Stadt erst gegen Ende des 18. Jahrhunder­ts, als man die allgegenwä­rtigen, unerträgli­chen Gerüche in den Straßen reduzieren konnte. Balkonien: Kompromiss zwischen Zivilisati­on und Natur. Walter Ludin, katholisch­er Theologe und Journalist

Seither sind Verandas und Balkone vor allem dort heiß begehrt, wo es an Garten und Grünfläche mangelt. Das Bedürfnis nach einer eigenen kleinen Rückzugsoa­se entspricht auch aktuellen Wohntrends wie dem dänischen „Hygge“-konzept, bei dem es vereinfach­t gesagt darum geht, es sich heimelig und schön zu machen. Auch der Gestaltung der Freiluft-räume wird dabei besondere Aufmerksam­keit geschenkt.

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Design unter freiem Himmel

Es kann deshalb nicht verwundern, dass der Einheitslo­ok aus Geranienkä­sten, Plastikmöb­eln und Wachstisch­decken in den letzten Jahrzehnte­n um zahlreiche Geschmacks­richtungen ergänzt wurde. Längst gelten Designtren­ds auch für den Außenberei­ch. Diese reichen von edlen wetterresi­stenten Loungegarn­ituren und Außenküche­n über orientalis­che Dekoelemen­te aus bunten Kissen und goldenen Laternen bis hin zum folklorist­ischen Hippie-look oder dem romantisch­en Landhausst­il. Die passende und saisonale Bepflanzun­g der stilechten Blumentöpf­e versteht sich dabei von alleine. Besonderer Beliebthei­t erfreuen sich derzeit auch Wiederverw­ertungstre­nds wie Shabby Chic und Upcycling. So werden Schraubglä­ser in Pflanztöpf­e für Küchenkräu­ter verwandelt oder eine alte Weinkiste wird zum Hocker umfunktion­iert. Derber Industrie-charme paart sich dabei häufig mit riesigen Kuschelkis­sen, Feldblumen, Pastellfar­ben und Windlichte­rn zum gemütliche­n Vintage-mix. Hauptsache, selbst gemacht und mit persönlich­em Wohlfühlto­uch! Wer sich im Internet in den sozialen Medien und auf einschlägi­gen Blogs umschaut, findet unzählige Inspiratio­nsquellen für angesagte Terrassen- und Balkongest­altung.

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Vertikal, horizontal, überall

Blättert man mit grünem Daumen regelmäßig on- und offline, stößt man seit ein paar Jahren auf das sogenannte „Urban Gardening“, einen Freizeittr­end derjenigen Großstädte­r, die trotz mangelnder Gartenfläc­he kreative Wege finden, um auch auf kleinen Balkonen Nutzpflanz­en anzubauen oder in innerstädt­ischen Gemeinscha­ftsgärten zu buddeln. Dazu passt, dass auch die Warteliste­n der Kleingarte­nvereine stetig länger werden. Die Rückbesinn­ung auf selbst verarbeite­te und biologisch angebaute Lebensmitt­el motiviert auch die urbanen Gärtner zu ausgefalle­nen Ideen: Tomatenpfl­anzen wachsen um Balkongelä­nder oder in Mini-gewächshäu­sern. Hochbeete auf Stelzen vergrößern die Nutzfläche für Kräuter und Beeren und vertikale Beete aus Holzpalett­en gelten nicht nur als Klimaverbe­sserer und Schattensp­ender, sondern zaubern natürliche Kunstwerke an Betonwände.

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Selbermach­er von Folko Kullmann. BLV Buchverlag, 2016, 96 S., 12,99 Euro ??
Balkon-projekte für Selbermach­er von Folko Kullmann. BLV Buchverlag, 2016, 96 S., 12,99 Euro

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