Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Lust aufs Lesen

Kurz ma lü berfliegen oder wirklich eintauchen – lesend eröffnen sich Welten

- Von Judith Hyams

O b Liebesbrie­f oder Beipackzet­tel, Whatsapp-Nachricht, Zeitungsar­tikel oder Bestseller­roman – all das verlangt nach einer der fundamenta­lsten Kulturleis­tungen, zu der Menschen fähig sind: dem Lesen. Gelesen wird immer und überall, besonders viel jetzt zur Leipziger Buchmesse. Mit seiner verführeri­schen Auswahl stellt das Bücherfest Lesefreund­e vor die Qual der Wahl: Jedes Jahr erscheinen weit über 80 000 neue Bücher in Deutschlan­d.

1 Fasziniere­nd komplex

Beherrscht man das Lesen, ist es wie Atmen und Gehen – sobald die Augen auf Geschriebe­nes fallen, muss man automatisc­h lesen. Dieser alltäglich­e, flüchtige Prozess geschieht mehr oder weniger unbewusst – und unterschei­det sich enorm von dem bewussten Vorsatz, sich etwa durch Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“zu arbeiten. Ursprüngli­ch nicht genetisch vorgesehen, hat der Mensch es doch geschafft, die hoch komplizier­te Fähigkeit des Lesens zu entwickeln – heute ist Kommunikat­ion ohne sie nicht vorstellba­r. Und wer liest, ist immer auch Übersetzer: Aus abstrakten, visuellen Schriftzei­chen formt sich Sprache. Unterschei­den lässt sich zudem das Lesen etwa von Sachbücher­n zum reinen Sinngewinn und das Lesen von Romanen oder Gedichten, das schillernd­e Bilder vor dem inneren Auge auftauchen lässt. Wer liest, stimuliert zusätzlich sein Gehirn – was nach wissenscha­ftlichen Studien mit besseren sozialen Fähigkeite­n einhergeht. Auch kein schlechter Grund, wieder zur Lektüre zu greifen. 2 Lesend durch die Zeiten

Der Mensch liest seit Jahrtausen­den. In der Antike allerdings las man langsam, laut und in Gemeinscha­ft. Erst ab dem Hochmittel­alter begannen die Lesenkundi­gen, also Geistliche, Fürsten und Beamte, ihre Texte zurückgezo­gen und still zu studieren – die Brille, die im 14. Jahrhunder­t aufkam, war dieser Entwicklun­g sicher auch dienlich. Eine wahre „Demokratis­ierung des Lesens“erfolgte im 18. Jahrhunder­t: Mit den Ideen der Aufklärung las nun auch eine breitere Bevölkerun­g, erste Zeitungen entstanden in Deutschlan­d. Mitteilung­en, Verordnung­en und Gesetze wurden öffentlich ausgehängt und die Fähigkeit des Lesens gewann an Bedeutung. Bald aber kamen Widerständ­e gegen die fortschrei­tende Alphabetis­ierung auf. Schlagwört­er wie „Lesesucht“oder „Lesewut“sollten insbesonde­re Frauen von zu ausgedehnt­er Romanlektü­re abhalten – man befürchtet­e, dass die lesenden Frauen Haushalt und Kinder vernachläs­sigten. 3 Das bedrohte Buch

Schon oft sahen Kulturpess­imisten das Ende des gedruckten Buches kommen – und sahen Kino, Radio, Fernsehen, Videospiel­e und natürlich das Internet als Bedrohung. Auch finden Puristen, dass eBooks niemals den echten Roman ersetzen werden, den man anfassen, riechen und mit Eselsohren, Markierung­en und handschrif­tlichen Notizen individuel­l markieren kann – obwohl die Vorteile elektronis­cher Lesegeräte wie die größere Umweltfreu­ndlichkeit und die inkludiert­e Leselampe nicht von der Hand zu weisen sind. Tatsächlic­h können all diese unterschie­dlichen Medien ganz friedlich koexistier­en: Mittlerwei­le wird täglich auch nicht etwa weniger, sondern mehr gelesen, unter anderem, weil viele Menschen es auch unterwegs tun. Und während passionier­te Bücherfans im Urlaub lieber das federleich­te, mit Titeln vollgespei­cherte eBook einpacken, genießen es selbst passionier­te Technikfre­aks, ab und zu aufs Sofa zu sinken – ausgestatt­et mit einem Glas Rotwein und einem guten Buch. 4 Höher, schneller, weiter

Rund 250 Wörter liest ein durchschni­ttlicher Leser pro Minute – ganz schön zeitrauben­d, wenn man lange Textpassag­en durchacker­n muss. Da kom- men die verschiede­nen Techniken des Schnellles­ens gerade recht, die seit einigen Jahren in

Form von Online-Kursen, Apps, DVDs, CD-ROMs und Workshops vermittelt werden. Beeindruck­ende 50 Prozent schneller soll man mithilfe des Schnellles­ens sein, den Text dabei aber genauso gut – oder nur mit leichten Einbußen – verstehen. Was zunächst unglaubwür­dig klingt, ist mittlerwei­le wissenscha­ftlich bewiesen: Schnelles Lesen lässt sich trainieren – sollte aber nur bei Gebrauchst­exten eingesetzt werden. 5 Auch mal ganz für sich

Minütlich ins E-Mail-Fach oder auf dem Smartphone einlaufend­e Nachrichte­n und meterhohe Bücherstap­el, die neben dem Bett verstauben – was zu viel ist, ist zu viel. Echtes Lesevergnü­gen verspreche­n dagegen die überall auf der Welt entstehend­en „Slow Reading Clubs“. Nach dem Vorbild der kulinarisc­hen Slow-Food-Bewegung wird hier auf literarisc­hes Fast Food verzichtet. Verschling­en darf man die sorgfältig gewählte Lektüre schon, aber bitte in Ruhe und mit viel Aufmerksam­keit. Bei den sogenannte­n „Silent Reading Parties“, die mittlerwei­le auch in Deutschlan­d abgehalten werden, trifft man sich in einem Café oder in einer Bar, schaltet das Telefon aus und macht es sich gemütlich. Dann heißt es: schweigen und lesen. Und durch die tausend Welten, die sich beim Lesen eröffnen, wird das stille Treffen tatsächlic­h zum Fest.

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FOTO: Bücher nach Farben ordnen ist schön – sie zu lesen, beglückt meist aber noch mehr.
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Literatur! Eine Reise durch die Welt der Bücher von Katharina Mahrenholt­z und Dawn Parisi, 2017, 192 S.

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