Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Lust aufs Lesen
Kurz ma lü berfliegen oder wirklich eintauchen – lesend eröffnen sich Welten
O b Liebesbrief oder Beipackzettel, Whatsapp-Nachricht, Zeitungsartikel oder Bestsellerroman – all das verlangt nach einer der fundamentalsten Kulturleistungen, zu der Menschen fähig sind: dem Lesen. Gelesen wird immer und überall, besonders viel jetzt zur Leipziger Buchmesse. Mit seiner verführerischen Auswahl stellt das Bücherfest Lesefreunde vor die Qual der Wahl: Jedes Jahr erscheinen weit über 80 000 neue Bücher in Deutschland.
1 Faszinierend komplex
Beherrscht man das Lesen, ist es wie Atmen und Gehen – sobald die Augen auf Geschriebenes fallen, muss man automatisch lesen. Dieser alltägliche, flüchtige Prozess geschieht mehr oder weniger unbewusst – und unterscheidet sich enorm von dem bewussten Vorsatz, sich etwa durch Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“zu arbeiten. Ursprünglich nicht genetisch vorgesehen, hat der Mensch es doch geschafft, die hoch komplizierte Fähigkeit des Lesens zu entwickeln – heute ist Kommunikation ohne sie nicht vorstellbar. Und wer liest, ist immer auch Übersetzer: Aus abstrakten, visuellen Schriftzeichen formt sich Sprache. Unterscheiden lässt sich zudem das Lesen etwa von Sachbüchern zum reinen Sinngewinn und das Lesen von Romanen oder Gedichten, das schillernde Bilder vor dem inneren Auge auftauchen lässt. Wer liest, stimuliert zusätzlich sein Gehirn – was nach wissenschaftlichen Studien mit besseren sozialen Fähigkeiten einhergeht. Auch kein schlechter Grund, wieder zur Lektüre zu greifen. 2 Lesend durch die Zeiten
Der Mensch liest seit Jahrtausenden. In der Antike allerdings las man langsam, laut und in Gemeinschaft. Erst ab dem Hochmittelalter begannen die Lesenkundigen, also Geistliche, Fürsten und Beamte, ihre Texte zurückgezogen und still zu studieren – die Brille, die im 14. Jahrhundert aufkam, war dieser Entwicklung sicher auch dienlich. Eine wahre „Demokratisierung des Lesens“erfolgte im 18. Jahrhundert: Mit den Ideen der Aufklärung las nun auch eine breitere Bevölkerung, erste Zeitungen entstanden in Deutschland. Mitteilungen, Verordnungen und Gesetze wurden öffentlich ausgehängt und die Fähigkeit des Lesens gewann an Bedeutung. Bald aber kamen Widerstände gegen die fortschreitende Alphabetisierung auf. Schlagwörter wie „Lesesucht“oder „Lesewut“sollten insbesondere Frauen von zu ausgedehnter Romanlektüre abhalten – man befürchtete, dass die lesenden Frauen Haushalt und Kinder vernachlässigten. 3 Das bedrohte Buch
Schon oft sahen Kulturpessimisten das Ende des gedruckten Buches kommen – und sahen Kino, Radio, Fernsehen, Videospiele und natürlich das Internet als Bedrohung. Auch finden Puristen, dass eBooks niemals den echten Roman ersetzen werden, den man anfassen, riechen und mit Eselsohren, Markierungen und handschriftlichen Notizen individuell markieren kann – obwohl die Vorteile elektronischer Lesegeräte wie die größere Umweltfreundlichkeit und die inkludierte Leselampe nicht von der Hand zu weisen sind. Tatsächlich können all diese unterschiedlichen Medien ganz friedlich koexistieren: Mittlerweile wird täglich auch nicht etwa weniger, sondern mehr gelesen, unter anderem, weil viele Menschen es auch unterwegs tun. Und während passionierte Bücherfans im Urlaub lieber das federleichte, mit Titeln vollgespeicherte eBook einpacken, genießen es selbst passionierte Technikfreaks, ab und zu aufs Sofa zu sinken – ausgestattet mit einem Glas Rotwein und einem guten Buch. 4 Höher, schneller, weiter
Rund 250 Wörter liest ein durchschnittlicher Leser pro Minute – ganz schön zeitraubend, wenn man lange Textpassagen durchackern muss. Da kom- men die verschiedenen Techniken des Schnelllesens gerade recht, die seit einigen Jahren in
Form von Online-Kursen, Apps, DVDs, CD-ROMs und Workshops vermittelt werden. Beeindruckende 50 Prozent schneller soll man mithilfe des Schnelllesens sein, den Text dabei aber genauso gut – oder nur mit leichten Einbußen – verstehen. Was zunächst unglaubwürdig klingt, ist mittlerweile wissenschaftlich bewiesen: Schnelles Lesen lässt sich trainieren – sollte aber nur bei Gebrauchstexten eingesetzt werden. 5 Auch mal ganz für sich
Minütlich ins E-Mail-Fach oder auf dem Smartphone einlaufende Nachrichten und meterhohe Bücherstapel, die neben dem Bett verstauben – was zu viel ist, ist zu viel. Echtes Lesevergnügen versprechen dagegen die überall auf der Welt entstehenden „Slow Reading Clubs“. Nach dem Vorbild der kulinarischen Slow-Food-Bewegung wird hier auf literarisches Fast Food verzichtet. Verschlingen darf man die sorgfältig gewählte Lektüre schon, aber bitte in Ruhe und mit viel Aufmerksamkeit. Bei den sogenannten „Silent Reading Parties“, die mittlerweile auch in Deutschland abgehalten werden, trifft man sich in einem Café oder in einer Bar, schaltet das Telefon aus und macht es sich gemütlich. Dann heißt es: schweigen und lesen. Und durch die tausend Welten, die sich beim Lesen eröffnen, wird das stille Treffen tatsächlich zum Fest.