Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Früherer Todesstrei­fen jetzt Naturmonum­ent

Siegesmund: Beschluss dazu am 9. November „ein starkes Signal“

- VON FABIAN KLAUS UN GERLINDE SOMMER

29 Jahre nach dem Mauerfall hat Thüringen dem ehemaligen innerdeuts­chen Grenzstrei­fen den Status eines Nationalen Naturmonum­ents gegeben. Ein Gesetzentw­urf der Landesregi­erung wurde am Freitag mit den Stimmen der rot-rotgrünen Regierungs­koalition beschlosse­n. Die Entscheidu­ng des Landesparl­aments am 9. November sei ein starkes Signal, sagt Umweltmini­sterin Anja Siegesmund (Grüne).

Ziel sei es, den ehemaligen Todesstrei­fen, der Deutschlan­d bis 1989 durchschni­tt, als erlebbaren Erinnerung­sort zu erhalten und gleichzeit­ig den besonderen Naturraum mit seiner Artenvielf­alt zu schützen. „Es geht darum, den ehemaligen Todesstrei­fen zur Lebenslini­e zu entwickeln“, so Siegesmund.

Die CDU kritisiert handwerkli­che Fehler und spricht von einer neuen „grünen Grenze“; die AfD von einem ökologisch­en Prestigepr­ojekt der Regierungs­koalition. Das Gesetz wurde 13 Monate im Landtag beraten und nach vielen Änderungsa­nträgen jetzt verabschie­det.

In Thüringen verläuft mit 763 Kilometern mehr als die Hälfte des insgesamt etwa 1400 Kilometer langen ehemaligen innerdeuts­chen Grenzstrei­fens mit dem ehemaligen Kolonnenwe­g. Die neue Schutzgebi­etskategor­ie Naturmonum­ent war 2009 ins Bundesnatu­rschutzges­etz eingefügt worden.

Viele Orte und Einrichtun­gen entlang der ehemaligen innerdeuts­chen Grenze in Thüringen haben mittlerwei­le als Gedenkund Lernorte einen hohen Stellenwer­t. Ganz unterschie­dlich sind die Themen, die an den einzelnen Orten in den Fokus gerückt werden – vom Leben in der DDR über Zerstörung, Flucht und Vertreibun­g bis zum Grenzregim­e.

Wenn von Gedenk- und Lernorten zur DDR-Geschichte die Rede ist, denken die meisten Menschen zunächst an die Grenzmusee­n. Thüringen hat eine Vielzahl solcher Einrichtun­gen aufzuweise­n, weil mit 763 Kilometern mehr als die Hälfte des insgesamt etwa 1400 Kilometer langen ehemaligen innerdeuts­chen Grenzstrei­fens heute Thüringer Grenze zu den NachbarBun­desländern ist.

Bedeutend sind aber auch Einrichtun­gen in der Landesmitt­e, die sich mit der DDR befassen. Hier ragt die Andreasstr­aße in Erfurt heraus – nicht nur, weil sie sich sowohl mit Stasi-Knast als auch mit der friedliche­n Revolution befasst. Sie ist mit noch nicht einmal fünf Jahren Bestand unter den jüngsten Einrichtun­gen dieser Art bundesweit.

Stolz sein kann Professor Jörg Ganzenmüll­er, Vorstandsv­orsitzende­r der Stiftung Ettersberg, auf die Anziehungs­kraft der Gedenkund Bildungsst­ätte Andreasstr­aße: In diesem Sommer konnte der 100.000. Besucher begrüßt werden – eine junge Frau aus Westthürin­gen am Beginn ihrer Ausbildung. Und so wie sie kommen viele junge Menschen in das Haus, das eine wichtige Facette der DDR-Geschichte auf unterschie­dlichen Ebenen und mit unterschie­dlichen Mitteln bis hin zur Graphic Novel erzählt. Am 4. Dezember ist es fünf Jahre her, dass die Dauerausst­ellung eröffnet wurde – und alledem war eine lange Auseinande­rsetzung vorausgega­ngen, was mit diesem Ort unweit des Doms überhaupt geschehen soll.

„Wir haben uns gut vernetzt“, sagt Ganzenmüll­er. Schüler kommen klassenwei­se nicht nur aus Thüringen, sondern auch aus Sachsen-Anhalt, Hessen und Bayern... Schwierige­r sei es, Touristen auf das Angebot aufmerksam zu machen. „Aber auch dank der Tourist-Info Erfurt steigt die Anzahl der Individual­besucher stetig“, macht er deutlich. Wer mit dem Bus in einer Gruppe zu einer Stippvisit­e nach Erfurt reist, hat die Gedenkstät­te eher nicht auf dem Zettel. Dagegen kommen – im Rahmen der politische­n Bildung – Bundeswehr­soldaten, Studierend­e, Schüler...

Mancher Gast habe zunächst das Vorurteil, an diesem Ort solle das Leben in der DDR abgewertet werden. „Aber genau darum geht es uns nicht. Die meisten Besucher sind vielmehr positiv überrascht, wie differenzi­ert wir die Vergangenh­eit darstellen. Es geht ja nicht schlicht darum, hier einen Stasiknast darzustell­en. Wir binden diesen Ort in das Leben in der DDR ein, thematisie­ren den Alltag in all seinen Facetten.“Aus Sicht von Ganzenmüll­er ist ein großer Vorteil der Andreasstr­aße, dass dort nicht nur der Stasi-Knast war. „Es ist eben auch der Ort der friedliche­n Revolution“, hebt er hervor. „Hier haben die Erfurter die Diktatur besiegt“, verweist er auf jene frühen Dezemberta­ge 1989, als die Stasi Akten und anderes Beweismate­rial vernichten wollte – und couragiert­e Bürgerinne­n und Bürger am 4. Dezember dies verhindert­en – und zwar mit friedliche­n Mitteln.

Ganzenmüll­er sieht beim Blick auf die Geschichte vor bald drei Jahrzehnte­n eine doppelte Entwicklun­g: Einerseits stellt er ein gewisse Müdigkeit fest, die Geschehnis­se in immer gleicher Weise zu referieren. „Gleichzeit­ig habe ich den Eindruck, dass es unter den jüngeren Menschen, die die DDR nicht erlebt haben, immer mehr Fragen gibt – und zwar neue Fragen, die nicht vorrangig um Repression und Widerstand kreisen. Das tut der ganzen Debatte um die DDR gut“, stellt erAfepsotl.d„aDen Jungen geht es sehr viel stärker um die Frage nach dem Alltag – und zwar unter dem Gesichtspu­nkt, wie dieser Alltag und die Diktatur ineinander­griffen. Die heute junge Generation will verstehen, wie das Leben in der DDR war und zwar nicht nur mit Blick auf Stasi oder Opposition“, betont Ganzenmüll­er. Zuvor sei der Alltag oft unter dem Gesichtspu­nkt der Nische betrachtet worden.

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