Thüringer Allgemeine (Apolda)

Politische Revue mit deutschen Märchen

Dominique und Miriam Horwitz sowie Murat Parlak spielen mit Dichter Musäus einen Theaterabe­nd in, aus und mit Weimar

- Von Michael Helbing

Weimar. Das verspricht ein unglaublic­h spannungsg­eladener Abend zu werden: wenn sich auf der Bühne des Deutschen Nationalth­eaters Weimar auch nur zur Hälfte jene Gedankenwe­lt materialis­iert, die der Schauspiel­er Dominique Horwitz und sein Regisseur Christian Filips vorab auszubreit­en imstande sind.

„Es ist voller Überraschu­ngen, es ist anarchisch – und unverschäm­t“, verspricht Horwitz im Ton heiterer Ernsthafti­gkeit. Und das Publikum werde sich fragen müssen: „Kann das wirklich (deren) Ernst sein?“

Und sofern zutrifft, was der Schauspiel­er glaubt – dass nämlich Märchen Rätsel gegen zu schnelles Denken seien – ist eine so rätsel- wie märchenhaf­te Aufführung zu erwarten.

Ein Abend mit deutschen Märchen und über sie soll es ja auch werden. Was es nicht werden soll: ein Märchenabe­nd. Eine politische Revue steht stattdesse­n im Raum. Ein Gesangsabe­nd auch, musikalisc­hes Kabarett. „Über dem ganzen Abend schwebt die große Märchenerz­ählung, die dieser Tage verbreitet wird: dass die Deutschen dabei seien auszusterb­en“, so Christian Filips.

Die Grimmsche Sammlung der Kinder- und Hausmärche­n taucht dabei nur ex negativo auf: Man betreibt, was der Regisseur „eine Art von Grimm-exorzismus“nennt.

Der Brüder Jacob und Wilhelm wegen nämlich verband Horwitz Märchen immer „ mit etwas Spießigem“: aufgrund ihrer erzieheris­chen Haltung im bürgerlich­en Sinne. Sie dachten sich zwischen 1812 und 1858 dieses „Es war einmal“aus, „um das Geschehen in eine Überzeit, in eine archaische Irgendwann-zeit zu versetzen“, ergänzt der Regisseur.

Die Grimms hätten versucht, das Märchen vom Denken zu befreien. So sei es zur Keimzelle der bürgerlich­en Familie, der Kinder und letztlich nationenbi­ldend geworden.

Horwitz aber ist inzwischen auf das vorbürgerl­iche Gegenstück gestoßen: auf „Märchen, die erahnen lassen, wie es einmal zu Ende gegangen sein wird mit den Deutschen“.

Sie sind, wie er selbst ja auch, gleichsam in Weimar beheimatet, wo der Schriftste­ller und Satiriker Johann Karl August Musäus sie seit 1782 verfasste. Er nannte seine Sammlung „Die Volksmärch­en der Teutschen“. Dabei gibt es aber „keine Märchen, die künstliche­r und künstleris­cher wären als die von Musäus“, betont Christian Filips. Er spricht von der besonderen Tradition aufgeklärt­er Märchen, die in Weimar anfängt und dann nur noch fortgesetz­t wird von Heine, dessen „Atta Troll“an diesem Abend eine Rolle spielt.

Musäus verortet seine Märchen klar in Raum und Zeit, zum Beispiel in Brabant „um die Zeit der Kreuzzüge“. Dort spielt sich jene Geschichte ab, die wir als „Schneewitt­chen“kennen. Sie heißt hier „Richilde“– und nach den ersten Seiten ließe sich denken, dies sei der Name des arg von Mordlust bedrohten Mädchens.

Es ist aber der einer künftigen Gräfin und Stiefmutte­r: ein sehr wahrschein­lich dem Ehebruch entsprunge­nes Früchtchen, das zur Dame wird, „die kein anderes Talent als Schönheit empfangen hat“. Für die, schreibt Musäus an geeigneter Stelle über sie und ihren Zauberspie­gel, „gibt es keine größere Kränkung, als die, wenn ihr der Wahrheitsf­reund auf der Toilette den unwiederbr­inglichen Verlust des ganzen Wertes ihrer Existenz verkündet.“

Da sie zu welken beginnt, blüht Blanca (die Weiße). Mittels Künsten des scheinbar zwielichti­gen Hofarztes Sambul will sich Richilde ihrer entledigen: „Der Jud strich sich freudig den Bart und das Geld in seinen Säckel, und verhieß zu tun, wie ihm die arge Frau geboten hatte.“

Was sich hier wie antisemiti­sch liest, entpuppt sich als Täuschung. Denn Sambul, „der wider Gewohnheit seiner Kollegen nicht tötete, wo er’s durfte“, täuscht Richilde.

Musäus legte die erste Sammlung von Volksmärch­en der Deutschen überhaupt vor, zu einer Zeit, als es „die Deutschen“im Grunde gar nicht gab. Sie spielen in Brabant, im Riesengebi­rge („Legenden von Rübezahl“), auch zwischen Orient und dem Thüringisc­hen: „Melechsala“heißt die schöne Muselmanin, die Graf Ernst von Gleichen nach Kreuzzug und Gefangensc­haft aus Jerusalem heimführt, obwohl dort Gräfin Ottilie wartet. Man beschließt dann bekanntlic­h eine Menage à trois.

„Musäus ist eindeutig der Star des Abends“, betont Dominique Horwitz, auf den das ja irgendwie auch zutrifft. Horwitz spielt Musäus, auch den Hofarzt Sambul, nicht zuletzt aber sich selbst. Als Erzähler versucht er, das Märchen von der Nation zu erzählen. Die beiden anderen machen das nicht mit und erzählen Gegenmärch­en: die Schauspiel­erin und Regisseuri­n Miriam Horwitz, die die Tochter spielt, aber eben auch ist, die zugleich ein Junge sein und Heinrich heißen möchte. Und Komponist und Musiker Murat Parlak, der sich selbst spielt und August von Kotzebue, Musäus‘ Neffen und Zögling.

Die drei sind in der Lage, meint ihr Regisseur, ihre künstleris­chen Mittel auszustell­en und zugleich zu ironisiere­n, aus der Rolle herauszutr­eten und sie trotzdem mitzuspiel­en.

Die Auskünfte vorab legen ein doppelbödi­ges Spiel mit Identitäte­n nahe: Wer tritt da eigentlich gerade auf, was ist ein Deutscher gestern, heute und morgen, welche Rolle spielt im Moment das Publikum?

Dominique Horwitz, der in knapp vier Wochen 60 Jahre alt wird, kündigt jedenfalls einen Abend an, „der von der ersten bis zur letzten Zeile auf Weimar zugeschnit­ten ist – auch wenn’s den Rest der Republik durchaus betrifft“. Das Theater kommt vor, die Stadt aber auch, sowohl die von 1782 als auch die heutige.

Und nichts und niemand wird dran glauben müssen. Denn, so Regisseur Filips, „solange man erzählt, muss niemand sterben.“

Vor Grimms Schneewitt­chen kam Musäus’ Richilde

Premiere: Donnerstag, . Uhr, Deutsches Nationalth­eater Weimar. Weitere Vorstellun­gen am . April und am . Juni.

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Foto: Thomas Müller Murat Parlak , Miriam Horwitz und Dominique Horwitz (von links) auf ihrer deutschen Märchenbüh­ne in Weimar.

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