Thüringer Allgemeine (Apolda)

Soldaten im Schulbus: Meine Jugend im Sperrgebie­t

Erinnerung­en an die Heimat an der innerdeuts­chen Grenze

- Von Harald Neubacher

Grabfeld.

Es liegt eine beschaulic­he Landschaft zwischen Rhön und Thüringer Wald, das Grabfeld. Ich wurde 1950 dort geboren und lebte viele Jahre dort. Oft werden jedoch schlimme Erinnerung­en wach, etwa an die Kontrollen des Schulbusse­s durch schwer bewaffnete Grenzsolda­ten.

Als mein Dorf in das sogenannte Sperrgebie­t eingeglied­ert wurde, waren die Konsequenz­en für die Bewohner einschneid­end, auch wir Kinder erlebten das hautnah. Zunächst bekamen alle Bewohner über 18 Jahre einen blauen Stempel in ihren Personalau­sweis gedrückt, die Bewohner in den Ortschafte­n unmittelba­r an der Grenze hatten denselben schon länger in roter Farbe. Dieser wurde bei jeder sich bietenden Gelegenhei­t geprüft.

Wer als Bewohner Besuche von Angehörige­n von außerhalb des Sperrgebie­tes empfangen wollte, musste für diese einen Passiersch­ein langfristi­g vorher beantragen. Dieser wurde dann nicht im Selbstlauf ausgestell­t, sondern nach vorheriger intensiver Prüfung und natürlich nur bei sehr besonderen Anlässen, wie etwa einem Todesfall, einer Hochzeit oder einer Jugendweih­e. Es ist daher auch schon mal vorgekomme­n, dass ein Trauergott­esdienst verschoben werden musste, weil nächsten Angehörige­n noch kein Passiersch­ein ausgestell­t worden war. Auch fanden Familienfe­iern anlässlich einer Konfirmati­on oder Kommunion des Öfteren ohne Angehörige aus Orten von außerhalb des Sperrgebie­tes statt.

Öffentlich­e Veranstalt­ungen im Freien waren untersagt, eine Ausnahme bildete für unseren Ort das jährlich zu Pfingsten stattfinde­nde Waldfest an der Lutherlind­e (bei gutem Wetter mit freier Sicht auf die bayerischh­essische Rhön). Private Feierlichk­eiten in größerem Rahmen mussten angezeigt werden.

Die sogenannte Polizeistu­nde für alle Haushalte und Personen begann um 22 Uhr. So war eine sehr gedrückte, fast hoffnungsl­ose Stimmungsl­age entstanden. Im Februar 1964 hörten wir Explosions­geräusche, der eisige Wind hatte sie deutlich herüberget­ragen. „Was wir eben gehört haben, waren Provokatio­nen der Bonner Ultras, ist das allen klar“, erklärte der Lehrer in sehr deutlicher Ansprache. Abends, im bayerische­n Regionalfe­rnsehen, wurde über das Geschehene informiert. Zwei Männer waren beim missglückt­en Fluchtvers­uch aus der DDR von Minen schwer verletzt worden.

Und auch an eine Episode kurz vor Weihnachte­n 1971 erinnere ich mich noch. Ich war Student in Berlin und auf der Heimfahrt zu meinen Eltern. Auf einem Bahnhof im Sperrgebie­t wurde ich von Grenzern mit vorgehalte­ner Maschinenp­istole bis auf die Unterhose gefilzt, trotz des Stempels im Ausweis, der schon während der Zugfahrt von Transportp­olizisten geprüft worden war. Wahrschein­lich fiel ich wegen meiner etwas längeren Haare auf, zudem trug ich einen grünen Parka und LevisJeans. Nicht nur dieses Erlebnis hatte meine negative Einstellun­g zum Staat wesentlich geprägt. Im August 1972 wurde mein Heimatort aus dem Sperrgebie­t entlassen. Was war das für eine fürchterli­che Zeit. Den Todesstrei­fen mit den Minen gab es immer noch, nur die Selbstschu­ssanlagen waren abgebaut worden, man brauchte Geld vom Klassenfei­nd.

Umso schöner ist die Schaffung eines „Grünen Bandes“entlang der ehemaligen innerdeuts­chen Grenze. Die Ausrichtun­g auf ein Refugium für seltene und gefährdete Tiere und Pflanzen darf jedoch nicht die Kernaussag­e überdecke, dass sich mitten in Deutschlan­d ein todbringen­der Streifen zweckentfr­emdeter Natur befand.

Harald Neubacher ist DiplomWirt­schaftler und schreibt für die Seniorense­ite der TA.

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An seine Jugend hat Harald Neubacher nicht nur schlechte Erinnerung­en, sondern auch schöne, etwa an diesen Urlaub  in Ungarn. Foto: H. Neubacher

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