Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Begegnung mit dem Todesengel
Ahnungslos radle ich auf dem Weg nach Bindersleben den Langen Graben hinauf, biege links in den Pfortenweg ein und bemerke vor einem Zweifamilienhaus eine Menschenmenge. Nanu, denke ich, als ich mittendrin die auf eine Lafette montierte Filmkamera entdecke, hier wird doch wohl nicht Volker Schlöndorff drehen?
Da sitzt er auch schon am Straßenrand auf seinem Klappstuhl.
Der Regisseur trägt Windjacke und ein schwarzes Basecap. Um ihn herum neben dem Filmteam etliche Anwohner als Zaungäste. Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass sich ein OscarPreisträger in diese Gegend verirrt.
Schlöndorffs Assistent gibt mir bereitwillig Auskunft: Ja, sie drehen für den Krimi „Der namenlose Tag“. Ja, der Hauptdarsteller, der Herr Thieme, komme auch gleich, er sei noch in der Maske.
Minuten später fährt ein schwarzer Minibus vor. Thomas Thieme steigt aus und ist baff, als er mich in voller Fahrradmontur erblickt.
Vorgestern erst hatte ich ihn an der Strippe, und wir plauderten über die Dreharbeiten am Erfurter Fischmarkt. Dass sie heute bei Bindersleben aufkreuzen würden, wusste er da selbst noch nicht.
„Welche Szene?“, frage ich.
„Ich bin der Todesengel“, sagt Thieme, „der Überbringer trauriger Nachrichten.“
Das seien Rückblenden. Sein Kommissar Jakob Franck wird von den Kollegen vorgeschickt, um die Verwandten des Mordopfers zu informieren.
„Und was machen Sie hier?“
„Ich wollte zur Arbeit“, sage ich.
„Mit dem Fahrrad?“
„Klar, bei schönem Wetter fahr’ ich immer mit dem Rad.“
„Gut. Dann werde ich Sie mal mit Herrn Schlöndorff bekannt machen“, sagt Thomas Thieme.
Der Regisseur staunt, als er erfährt, dass wir seit 16 Jahren miteinander für eine Zeitung telefonieren und am Dienstag unsere 187. Interview-Folge erschien. „Das ist ja reif fürs Guinnessbuch der Rekorde“, meint Volker Schlöndorff.
Dann ist „Action“. Klappe „Todesengel“, die erste...
Zweimal steigt Thieme mit Lederjacke und Aktentasche im Vorgarten die Treppe hinauf, klingelt an der Haustür und wird von einem schreckensbleichen Mann eingelassen. Zum Schluss schwenkt der Kamerawagen auf die Straße, um zu filmen, wie der Kommissar sich entfernt. „Statisten los!“, ruft der Assistent, und ein paar Fußgänger setzen sich mit in Bewegung.
Schlöndorffs Blick fällt auf mein Rad: „Radfahrer passt gut“, beschließt er. „Steigen Sie auf, fahren Sie an ihm vorbei, aber grüßen Sie ihn nicht.“
Fünfmal strample ich vor laufender Kamera den Berg hinauf durch die Szene. Dann darf Thieme verschnaufen.